Der alte Hildebrand
Grimms Märchen
In einem hübschen, kleinen Dorf, wo die Hühner auf der Straße gackerten und die Katzen auf den sonnigen Dächern dösten, lebten ein Bauer und seine Frau. Der Bauer war ein fleißiger Kerl, der jeden Tag auf dem Feld arbeitete. Seine Frau aber, die hatte manchmal ganz andere Dinge im Kopf. Sie fand nämlich den Pfarrer vom Dorf viel interessanter als ihren Mann.
Eines Tages tat die Frau so, als wäre sie furchtbar krank. "Oh weh, oh weh!", jammerte sie. "Lieber Mann, mir ist so schlecht! Du musst ganz schnell zum Doktor Allwissend gehen und ihn holen, sonst ist es aus mit mir!" Der Bauer, der seine Frau trotz allem liebte, machte sich große Sorgen und lief sofort los.
Unterwegs, als er durch den Wald eilte, traf er seinen alten Freund, den Gevatter Hildebrand. "Hallo Bauer!", rief Hildebrand. "Warum rennst du denn so schnell?"
Der Bauer erzählte ihm von seiner kranken Frau und dass er den Doktor Allwissend holen müsse.
Gevatter Hildebrand lachte schlau. "Deine Frau ist nicht krank, mein Lieber! Die will nur, dass du weg bist, damit sie ungestört den Pfarrer besuchen kann!"
Der Bauer wurde ganz blass. "Was soll ich denn nur tun?", fragte er traurig.
"Keine Sorge", sagte Hildebrand. "Ich habe eine Idee. Kriech schnell in diesen großen Korb hier. Ich trage dich nach Hause und sage deiner Frau, ich sei der Gevatter Hildebrand und brächte den Doktor Allwissend mit."
Gesagt, getan. Der Bauer kletterte in den Korb, und Hildebrand, der ein starker Mann war, hob ihn auf seine Schulter und trug ihn zurück zum Haus des Bauern.
"Guten Tag, Bäuerin!", rief Hildebrand. "Ich bringe den Doktor Allwissend! Er ist ein bisschen müde von der Reise und ruht sich hier im Korb aus."
Die Frau erschrak ein wenig, aber sie tat so, als freue sie sich. "Oh, wie gut! Bringt ihn nur herein und stellt den Korb in die Ecke."
Hildebrand tat das und verabschiedete sich. Kaum war er zur Tür hinaus, da klopfte es auch schon leise, und der Pfarrer schlüpfte herein.
"Endlich ist der alte Bauer weg!", sagte der Pfarrer fröhlich. Die Frau lachte und holte schnell leckeres Essen hervor: gebratenes Hähnchen, frisches Brot und süßen Wein. Sie setzten sich an den Tisch und ließen es sich gutgehen.
Nach einer Weile, als der Wein ihm schon ein bisschen in den Kopf gestiegen war, fing der Pfarrer an zu singen:
"Ich wollt, mein Bauer wär weit, weit weg,
vielleicht sogar in Prag versteckt!"
Die Frau kicherte und sang zurück:
"Und wär er noch viel weiter fort,
an einem ganz geheimen Ort!"
Da raschelte es plötzlich im Korb in der Ecke, und eine tiefe Stimme sang heraus:
"Ich, der alte Hildebrand,
sitz hier im Korb, ganz unerkannt!"
Der Pfarrer und die Frau sahen sich erschrocken an. "Was war das?", flüsterte die Frau.
Der Pfarrer, schon etwas mutiger durch den Wein, sang noch einmal, etwas lauter:
"Ich wollt, mein Bauer wär schon hin,
dann hätt mein Leben neuen Sinn!"
Die Frau, nun auch wieder kühner, sang mit zitternder Stimme:
"Und läg er tief unter der Erd,
wär mir mein Herzchen unbeschwert!"
Da sang die Stimme aus dem Korb noch lauter:
"Ich, der alte Hildebrand,
sitz hier im Korb, hab alles erkannt!"
Jetzt bekamen es der Pfarrer und die Frau mit der Angst zu tun. Der Pfarrer versuchte es ein letztes Mal, ganz kleinlaut:
"Ich wollt, mein Bauer wär auf dem Mond,
wo niemand sonst mehr bei ihm wohnt!"
Die Frau piepste kaum hörbar:
"Und käm er niemals mehr zurück,
das wär für uns das größte Glück!"
Da krachte der Deckel vom Korb auf, und heraus sprang der Bauer, rot vor Wut und mit einem dicken Stock in der Hand! "Ich bin nicht Hildebrand, ich bin der Bauer!", brüllte er. "Und ich bin nicht auf dem Mond, sondern hier bei euch!"
Der Pfarrer sprang auf, stieß den Stuhl um und rannte so schnell er konnte aus dem Haus, über den Hof und davon. Man hat ihn in dem Dorf nie wiedergesehen.
Und die Frau? Die war von diesem Tag an die liebste und treueste Bäuerin, die man sich vorstellen konnte. Und wenn sie ihren Mann ansah, dachte sie immer an den Korb und den alten Hildebrand.
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