Das Kind an der Weinrebe
Andersens Märchen
Der Wind pfiff eiskalt um die Häuserecken an einem ganz besonderen Abend, dem letzten Abend des Jahres. Draußen war es bitterkalt und es begann zu schneien. Ein kleines Mädchen, barfuß und mit dünnen Kleidern, huschte durch die dunklen Straßen. Ihre Füße waren ganz rot und blau vor Kälte. In ihrer alten Schürze trug sie viele Schwefelhölzer, die sie verkaufen wollte. Aber niemand hatte ihr an diesem langen, kalten Tag auch nur ein einziges abgekauft. Niemand hatte ihr auch nur einen kleinen Groschen gegeben.
Hungrig und frierend schlich sie dahin. Die Schneeflocken fielen auf ihr langes, blondes Haar, das sich so hübsch um ihren Nacken lockte, aber daran dachte sie jetzt nicht. Aus allen Fenstern leuchtete heller Kerzenschein, und es roch so herrlich nach gebratener Gans, denn es war ja Silvesterabend. Ja, daran dachte sie.
In einer Ecke zwischen zwei Häusern, wo der Wind nicht ganz so bissig war, kauerte sie sich nieder. Ihre kleinen Füße hatte sie unter sich gezogen, aber es wurde ihr immer kälter. Nach Hause traute sie sich nicht, denn sie hatte ja keine Schwefelhölzer verkauft und würde sicher Schimpfe bekommen. Außerdem war es zu Hause auch kalt; sie hatten nur ein Dach über dem Kopf, und der Wind pfiff hindurch, obwohl Stroh und Lumpen in die größten Spalten gestopft waren.
Ihre kleinen Hände waren fast erstarrt vor Kälte. Ach, ein einziges Schwefelhölzchen könnte vielleicht helfen, wenn sie es nur wagen würde, eines aus dem Bund zu ziehen und an der Wand anzustreichen, um die Finger zu wärmen! Sie zog eins heraus. "Ritsch!" Wie sprühte es, wie brannte es! Es war eine warme, helle Flamme, wie ein kleines Licht, als sie die Hände darüber hielt. Es war ein wunderbares Licht! Dem kleinen Mädchen war es, als säße sie vor einem großen, eisernen Ofen mit glänzenden Messingkugeln. Das Feuer brannte so wohltuend, es wärmte so gut! Das kleine Mädchen streckte schon die Füße aus, um auch sie zu wärmen – da erlosch die Flamme. Der Ofen verschwand, und sie saß wieder da mit dem kleinen Rest des ausgebrannten Schwefelhölzchens in der Hand.
Sie strich ein neues an. Es brannte, es leuchtete, und wo der Schein auf die Mauer fiel, wurde diese durchsichtig wie ein Schleier. Sie konnte in die Stube hineinsehen. Auf dem Tisch lag ein blütenweißes Tischtuch, darauf stand prächtiges Porzellan, und herrlich dampfte die gebratene Gans, gefüllt mit Äpfeln und Pflaumen! Und was noch viel schöner war: Die Gans hüpfte von der Schüssel, watschelte mit Messer und Gabel im Rücken über den Fußboden direkt auf das arme Mädchen zu. Da erlosch das Schwefelhölzchen, und nur die dicke, kalte Mauer war zu sehen.
Sie zündete wieder eines an. Nun saß sie unter dem allerschönsten Weihnachtsbaum. Er war noch größer und reicher geschmückt als der, den sie durch die Glastür bei dem reichen Kaufmann gesehen hatte. Tausende von Lichtern brannten auf den grünen Zweigen, und bunte Bilder, wie sie in den Schaufenstern ausgestellt waren, schauten auf sie herab. Das kleine Mädchen streckte beide Hände danach aus – da erlosch das Schwefelhölzchen. Die vielen Weihnachtslichter stiegen höher und höher, und sie sah nun, dass es die hellen Sterne am Himmel waren. Einer von ihnen fiel herab und zog einen langen Feuerstreifen über den Himmel. "Jetzt stirbt jemand", dachte das kleine Mädchen, denn ihre alte Großmutter, die sie sehr lieb gehabt hatte und die nun tot war, hatte gesagt: "Wenn ein Stern fällt, steigt eine Seele zu Gott empor."
Sie strich wieder ein Hölzchen an der Mauer an. Es wurde wieder hell, und im Glanz stand ihre alte Großmutter, so klar und leuchtend, so mild und liebevoll.
"Großmutter!", rief die Kleine. "Ach, nimm mich mit! Ich weiß, du verschwindest, wenn das Hölzchen ausgeht, so wie der warme Ofen, der herrliche Gänsebraten und der große, prächtige Weihnachtsbaum!" Und sie zündete schnell alle übrigen Hölzchen an, die sie noch im Bund hatte, denn sie wollte die Großmutter festhalten. Und die Schwefelhölzchen leuchteten mit solchem Glanz, dass es heller war als am lichten Tag. Die Großmutter war noch nie so schön, so groß gewesen. Sie nahm das kleine Mädchen in ihre Arme, und sie flogen zusammen hoch hinauf, in Glanz und Freude, dorthin, wo es weder Kälte noch Hunger noch Angst gab: Sie waren bei Gott.
Am nächsten Morgen, im kalten Dämmerlicht, saß das kleine Mädchen in der Ecke, mit roten Wangen und einem Lächeln um den Mund. Erfroren in der letzten Nacht des alten Jahres. Die Morgensonne schien auf die kleine Leiche. Das Kind saß da, steif und kalt, mit den Schwefelhölzchen, von denen ein Bund fast abgebrannt war. "Sie hat sich wärmen wollen", sagten die Leute. Niemand wusste, welch schöne Dinge sie gesehen hatte, in welchem Glanz sie mit ihrer alten Großmutter ins neue Jahr gegangen war.
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