Die Stumme
Andersens Märchen
In einer Stadt, wo die Häuser so eng zusammenstanden, dass man fast von einem Fenster zum anderen rüberwinken konnte, lebte ein alter Mann. Er war ein lieber, alter Mann, aber ein bisschen einsam fühlte er sich manchmal schon. Sein größter Schatz war kein glitzerndes Gold und keine funkelnden Diamanten, nein, es war ein Buch!
Aber es war kein normales Buch mit Buchstaben und bunten Bildern, die man gleich sehen konnte. Oh nein! Dieses Buch sah auf den ersten Blick... ganz leer aus! Zumindest für andere Leute.
Jeden Abend, wenn draußen die Sterne am Himmel zu zwinkern begannen, machte es sich der alte Mann in seinem weichen Sessel bequem, nahm sein besonderes Buch zur Hand und schlug es auf. Und dann geschah jedes Mal ein kleines Wunder! Auf den weißen Seiten erschienen plötzlich Bilder, wie von unsichtbarer Hand gemalt. Es waren die Bilder seines eigenen Lebens.
Zuerst sah er sich als kleinen Jungen, der fröhlich lachte, durch saftig grüne Wiesen tollte und mit seinem bunten Drachen dem Wind hinterherjagte. Er sah seine lieben Eltern und das warme Zuhause seiner Kindheit.
Blätterte er weiter, kamen Bilder von der Schulzeit, von lustigen Abenteuern mit seinen besten Freunden und von dem ersten Mal, als sein Herz vor Aufregung ganz schnell pochte, weil er ein Mädchen besonders nett fand.
Er sah sich, wie er größer wurde, wie er lernte und die Welt entdeckte. Manchmal zeigten die Bilder sonnige Tage voller Lachen, manchmal auch Tage, an denen ein paar Tränen kullerten, denn so ist das Leben nun einmal. Er sah seine Hochzeit, das Lächeln seiner Frau und später die kleinen Händchen seiner Kinder, die nach ihm griffen.
Mit jeder umgeblätterten Seite wurde der Mann in den Bildern ein kleines bisschen älter, genau wie der alte Mann, der da im Sessel saß und lächelte. Die Haare im Buch wurden grauer, die Falten um die Augen tiefer, aber das Lächeln blieb.
Eines Abends war der alte Mann bei den allerletzten Seiten angekommen. Die Bilder zeigten ihn alt und müde, aber mit einem friedlichen Lächeln im Gesicht, umgeben von seinen Kindern und Enkelkindern. Auf der allerletzten Seite sah man, wie er ganz sanft die Augen schloss, als würde er einschlafen. Und dann, wie ein heller, funkelnder Stern, schien er ganz leicht nach oben zu schweben, hin zu all den anderen Sternen am Nachthimmel.
Das Buch klappte leise zu. Es hatte seine Geschichte zu Ende erzählt. Und auch wenn die Seiten nun wieder leer aussahen für jeden, der hineinblickte, so wusste doch jeder, der die Geschichte dieses Buches kannte: Es war das reichste Buch der Welt, voller bunter Erinnerungen, voller Freude und Liebe. Ein stummes Buch, das die wunderbarste Geschichte von allen erzählte – die Geschichte eines ganzen, erfüllten Lebens.
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