Der Holunderbaum
Andersens Märchen
Hui, war das ein Wetter draußen! Der Wind pfiff und der Regen klatschte gegen die Fenster. Drinnen aber, da war es gemütlich. Ein kleiner Junge namens Theo lag in seinem Bett. Er hatte sich erkältet und seine Nase lief wie ein Wasserhahn.
Seine Mama kochte ihm einen Tee. „Holunderblütentee, mein Schatz“, sagte sie, „der macht dich wieder gesund.“ Der Tee duftete herrlich.
Während der Tee ein wenig abkühlte, kam ein alter, freundlicher Herr zu Besuch. Er war ein guter Freund der Familie. Er setzte sich neben Theos Bett. „Na, kleiner Mann?“, fragte er mit warmer Stimme. „Soll ich dir eine Geschichte erzählen, damit die Zeit schneller vergeht, bis dein Tee trinkfertig ist?“ Theo nickte eifrig, denn er liebte Geschichten.
Der alte Herr begann: „Es waren einmal ein alter Mann und eine alte Frau. Sie wohnten in einem kleinen, gemütlichen Haus mit einem großen Garten, und mitten im Garten stand ein wunderschöner, großer Holunderbusch. Jedes Jahr im Frühling war er voller weißer, duftender Blüten, und im Spätsommer hingen dicke, schwarze Beeren daran.“
„Das alte Ehepaar feierte gerade seine Goldene Hochzeit. Das bedeutet, sie waren schon fünfzig Jahre lang glücklich verheiratet. Stell dir vor, fünfzig Jahre! Das ist eine ganz lange Zeit. Sie saßen unter dem Holunderbusch, tranken Tee – vielleicht sogar Holunderblütentee, so wie du – und erinnerten sich an all die schönen Jahre.“
„Weißt du noch“, sagte der alte Mann zu seiner Frau, „wie wir hier als junge Leute getanzt haben, direkt unter diesem Busch?“
Die alte Frau lächelte. „Und wie unsere Kinder später hier Verstecken gespielt haben, und die Zweige des Holunders waren ihr bestes Versteck!“
Plötzlich raschelte es leise in den Blättern des Holunderbusches, obwohl gar kein Wind ging. Und wer kam da langsam und vorsichtig zwischen den Zweigen hervor? Es war eine kleine, liebe alte Frau, ganz in Grün gekleidet, mit Holunderblüten im Haar. Es war das Holundermütterchen, das im Holunderbusch wohnt.
„Ich habe euch zugehört“, sagte das Holundermütterchen mit einer Stimme, die klang wie das Summen der Bienen. „Ihr habt so viele schöne Erinnerungen an diesen Ort und an mich, den Holunder.“
Das alte Paar staunte. Sie hatten schon oft von der Holundermutter gehört, aber sie noch nie gesehen.
„Wollt ihr sehen, wie es wirklich war?“, fragte das Holundermütterchen. Bevor sie antworten konnten, wedelte sie sanft mit einem blühenden Holunderzweig. Und schwupps! Plötzlich sahen der alte Mann und die alte Frau sich selbst, wie sie als junges Paar lachend unter dem blühenden Holunder tanzten. Dann sahen sie ihre Kinder, kleine Jungen und Mädchen, die fröhlich um den Busch herumtollten und sich hinter seinen dichten Blättern versteckten. Sie sahen Feste, Picknicks und stille Nachmittage, alles unter dem schützenden Dach des Holunderbusches. Es war wie ein lebendiges Bilderbuch ihrer Vergangenheit.
Theo hörte mit großen Augen zu. Der Duft des Holundertees stieg ihm in die Nase, und seine Augen wurden langsam schwer. Er kuschelte sich tiefer in seine Decke.
Als der alte Herr mit seiner Geschichte fertig war, war Theo fast eingeschlafen. Es schien ihm, als ob das Holundermütterchen aus der Geschichte nun auch in seinem Zimmer wäre. Sie lächelte ihn freundlich an und zeigte ihm bunte Bilder von spielenden Kindern und blühenden Bäumen, die im warmen Sonnenschein tanzten.
Als Theo am nächsten Morgen aufwachte, fühlte er sich schon viel besser. Die Erkältung war fast weg. Der alte Herr war nicht mehr da, aber seine Mama saß neben seinem Bett.
„Das war eine schöne Geschichte gestern“, sagte Theo. „Aber war das Holundermütterchen wirklich da, bei dem alten Paar?“
Seine Mama lächelte geheimnisvoll. „Wer weiß das schon so genau? Aber der alte Herr, der dir die Geschichte erzählt hat, der war der alte Mann aus der Geschichte. Und die alte Frau war seine liebe Frau, deine Oma, die leider nicht mehr bei uns ist. Und das kleine Mädchen, das damals unter dem Holunderbusch spielte und später deine Mama wurde... nun, das war ich!“
Theo staunte. „Wirklich?“
„Wirklich“, sagte seine Mama und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. „Und jedes Mal, wenn du Holunderblütentee trinkst, kannst du dich vielleicht auch an all die schönen Geschichten erinnern, die in so einem alten Baum stecken.“
Und so wusste Theo, dass in jedem Holunderbusch ein kleines bisschen Magie und viele Erinnerungen wohnen, genau wie in den Geschichten, die man sich erzählt, wenn man Tee trinkt und wieder gesund wird.
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