Der Gauner und sein Meister
Grimms Märchen
Hört mal zu, Kinder, ich erzähle euch was von einem Jungen namens Jan. Jan war ein aufgeweckter Kerl, aber er wusste nicht so recht, was er einmal werden wollte. Eines Tages sagte sein Vater: "Jan, du musst ein Handwerk lernen, etwas Nützliches!" Sie gingen zusammen in den Wald, um nachzudenken, und trafen dort einen seltsamen, alten Mann mit funkelnden Augen.
"Guten Tag", sagte der Mann. "Sucht ihr vielleicht einen Meister für den Jungen?"
"Ja", antwortete der Vater, "aber was für ein Handwerk lehrt Ihr denn?"
Der alte Mann lächelte verschmitzt. "Ich lehre die Kunst der Verwandlung und des pfiffigen Beschaffens!"
Jan fand das aufregend und so blieb er bei dem alten Mann, der in Wahrheit ein Meisterdieb war, aber einer von der ganz schlauen Sorte. Der Meister lehrte Jan, wie man sich in verschiedene Tiere verwandelt. Zuerst lernte Jan, ein kleiner, flinker Sperling zu werden. Dann ein glitschiger Fisch, der pfeilschnell durchs Wasser schoss. Und schließlich ein blitzschneller Hase, der Haken schlagen konnte wie kein anderer. Jan war ein sehr guter Schüler und lernte alles im Nu.
Bald kam die erste Prüfung. "Jan", sagte der Meister, "du sollst mir das schönste Pferd aus dem Stall des reichen Grafen holen. Aber pass auf, der Stall ist gut bewacht!"
Jan verwandelte sich in einen Sperling, flatterte unbemerkt durch ein kleines Fenster in den Stall. Die Wachen dösten. Jan pickte ihnen ganz sanft auf die Nasenspitzen, sodass sie tief einschliefen. Dann löste er das Halfter des Pferdes, öffnete leise das Tor und führte das Pferd hinaus zu seinem Meister. Der Meister nickte anerkennend.
Die zweite Prüfung war kniffliger. "Nun", sprach der Meister, "hole mir den goldenen Ring der Königin. Sie badet gerade im See und hat den Ring ans Ufer gelegt."
Jan verwandelte sich in einen Fisch. Er schwamm leise durch das Schilf, schnappte sich den Ring mit dem Maul und tauchte blitzschnell unter. Die Königin bemerkte erst viel später, dass ihr Ring fehlte, aber da war Jan schon längst mit dem Ring bei seinem Meister. Der Meister klopfte Jan stolz auf die Schulter.
"Sehr gut!", sagte der Meister. "Die letzte Prüfung wird die schwerste sein. Du sollst mir den Pfarrer und seinen Küster aus der Kirche holen, während sie dort beten!"
Jan dachte nach. Dann verwandelte er sich in einen Hasen. Er hoppelte in die Kirche und begann, zwischen den Bänken wild herumzuspringen und an den Altarkerzen zu knabbern. Der Pfarrer und der Küster waren ganz erschrocken und versuchten, den frechen Hasen zu fangen. Jan lockte sie geschickt immer weiter aus der Kirche hinaus, direkt in einen großen Sack, den er zuvor versteckt hatte. Schwups, zog er den Sack zu und brachte ihn seinem Meister.
Der Meister lachte schallend. "Jan, du hast alle Prüfungen bestanden! Du bist nun selbst ein Meister!"
Aber der alte Meister wollte noch eine allerletzte Sache wissen, ob Jan wirklich klüger war als er. "Ich verwandle mich jetzt in ein kleines Weizenkorn auf dem Hof", sagte er. "Wenn du mich findest, dann hast du wahrhaftig gewonnen." Und zack, war der Meister ein Weizenkorn unter vielen anderen.
Jan überlegte nicht lange. Er verwandelte sich in einen stolzen Hahn, stolzierte über den Hof und pickte ein Korn nach dem anderen auf, bis er genau das Korn erwischte, das sein Meister war.
"Kikeriki!", krähte der Hahn zufrieden. Da wusste der alte Meister, dass Jan ihn übertroffen hatte.
Von diesem Tag an war Jan als der klügste Verwandlungskünstler im ganzen Land bekannt. Er nutzte seine besonderen Fähigkeiten oft, um anderen zu helfen oder um sich aus brenzligen Situationen zu befreien. Und wenn er nicht gestorben ist, dann verwandelt er sich vielleicht gerade jetzt in irgendetwas Spannendes.
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