Jorinde und Joringel
Grimms Märchen
Mitten in einem tiefen, geheimnisvollen Wald, wo die Bäume so dicht standen, dass kaum ein Sonnenstrahl den Boden erreichte, lebten einmal zwei junge Leute, die sich sehr lieb hatten. Sie hießen Jorinde und Joringel und wollten bald heiraten. Am liebsten spazierten sie Hand in Hand durch den Wald und erzählten sich Geschichten.
Nicht weit von ihrem Dorf stand ein altes, unheimliches Schloss. Darin wohnte eine alte Zauberin. Tagsüber verwandelte sie sich manchmal in eine Katze oder eine Nachteule. Und wer ihrem Schloss zu nahe kam, den konnte sie verzaubern. Junge Mädchen verwandelte sie in Vögel und sperrte sie in Körbe, die sie im Schloss aufbewahrte.
Eines Abends gingen Jorinde und Joringel wieder im Wald spazieren. Die Sonne ging gerade unter, und ein sanftes Abendrot malte den Himmel. Sie plauderten und lachten und merkten nicht, wie nah sie dem Schloss der Zauberin kamen.
Plötzlich fühlte sich Joringel ganz komisch. Er konnte sich nicht mehr bewegen, als wäre er aus Stein. Er sah, wie Jorinde anfing, ein trauriges Lied zu singen, das klang wie das Lied einer Nachtigall. Dann wurde ihr Lied wirklich zum Zwitschern eines Vogels. Eine große Nachteule mit feurigen Augen flog herbei, kreiste dreimal um Jorinde und rief: "Schu-hu-huu!"
Und schwups, war Jorinde eine kleine Nachtigall! Die Eule packte die Nachtigall mit ihren Krallen und flog mit ihr ins Schloss.
Joringel konnte nichts tun. Er war wie erstarrt. Erst als die Zauberin mit Jorinde verschwunden war, konnte er sich wieder bewegen. Er war so traurig! Seine liebe Jorinde war fort. Er weinte und wusste nicht, was er tun sollte. Er konnte nicht zurück ins Dorf ohne Jorinde. So blieb er in der Nähe des Schlosses, aber er traute sich nicht hinein.
Eines Nachts hatte er einen Traum. Er träumte von einer wunderschönen, blutroten Blume. In der Mitte der Blume war eine große, glänzende Perle. Eine Stimme im Traum sagte ihm, dass diese Blume jeden Zauber brechen könne.
Joringel wachte auf und wusste: Diese Blume musste er finden! Er suchte Tag und Nacht. Neun Tage lang wanderte er durch den Wald, über Berge und durch Täler. Am neunten Morgen, als die Sonne gerade aufging, fand er sie endlich: eine leuchtend rote Blume mit einem großen Tautropfen wie eine Perle in der Mitte.
Vorsichtig pflückte er die Blume und ging zum Schloss der Zauberin. Er hatte keine Angst mehr. Als er die Schlosstür mit der Blume berührte, sprang sie auf. Er ging durch viele Gänge und kam schließlich in einen großen Saal. Dort saß die Zauberin und fütterte gerade hunderte von Vögeln in kleinen Weidenkörbchen. Es waren wohl an die siebentausend Körbe.
Als die Zauberin Joringel sah, wurde sie wütend und zischte und spuckte Gift und Galle, aber sie konnte ihm nicht näher als zwei Schritte kommen. Die rote Blume schützte ihn. Joringel ging auf sie zu und berührte sie mit der Blume. Sofort war all ihre Zauberkraft verschwunden! Sie konnte niemanden mehr verhexen.
Dann suchte Joringel den Korb mit seiner Jorinde. Wie sollte er sie unter so vielen Nachtigallen finden? Aber da sah er, wie die alte Zauberin einen Korb nahm und zur Tür hinausschleichen wollte. Schnell sprang er hinzu und berührte den Korb mit der Blume, und auch die Zauberin. Sie konnte nun nicht mehr zaubern, und Jorinde stand vor ihm, so schön wie immer. Sie fiel Joringel um den Hals.
Joringel berührte auch alle anderen Vogelkörbe mit der Blume. Und aus all den Vögeln wurden wieder hübsche junge Mädchen, die überglücklich waren, endlich frei zu sein.
Jorinde und Joringel gingen glücklich nach Hause und heirateten bald. Und sie lebten noch lange und zufrieden zusammen.
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