• Die Rabe

    Grimms Märchen
    Stellt euch vor, in einem prächtigen Schloss lebte eine Königin, die manchmal ganz schön die Geduld mit ihrer kleinen Tochter verlor. Die Prinzessin war nämlich ein richtiges Energiebündel, immer am Lachen, Toben und manchmal auch ein bisschen unartig. Eines Tages war die Königin besonders müde und rief im Scherz, aber auch ein bisschen genervt: "Ach, wärst du doch ein Rabe und flögest davon, dann hätte ich endlich meine Ruhe!"

    Kaum hatte sie das ausgesprochen, schwuppdiwupp, verwandelte sich die kleine Prinzessin tatsächlich in einen kohlrabenschwarzen Raben! Mit einem lauten "Krah!" flatterte sie erschrocken zum Fenster hinaus und flog immer weiter, bis sie tief in einem dunklen, geheimnisvollen Wald verschwand.

    Dort saß der Rabe nun traurig auf einem Ast. Nach einer Weile kam ein junger Mann des Weges. Er hörte ein leises Krächzen und sah den Raben. "Hallo, kleiner Rabe, was ist denn los?", fragte er freundlich.
    Da sprach der Rabe mit menschlicher Stimme: "Ich bin eine verzauberte Prinzessin. Nur du kannst mich erlösen!"
    Der junge Mann staunte nicht schlecht. "Wirklich? Was muss ich denn tun?"
    "Ganz in der Nähe ist ein kleines Haus", erklärte der Rabe. "Darin wohnt eine alte Frau. Du musst zu ihr gehen, aber pass gut auf: Du darfst absolut nichts von ihr annehmen, kein Essen und kein Trinken, egal was sie dir anbietet. Wenn du das schaffst, warte draußen auf einem Strohhaufen auf mich. Aber wenn du einschläfst, bevor ich komme, dann bleibe ich für immer ein Rabe."

    Der junge Mann versprach, alles genau so zu machen. Er fand das Häuschen, und die alte Frau öffnete ihm die Tür. "Guten Tag, junger Mann", sagte sie mit süßer Stimme. "Du siehst müde aus. Möchtest du nicht ein Schlückchen Wasser?"
    Der Mann war tatsächlich sehr durstig vom langen Weg. "Ach, ein kleines Schlückchen wird schon nicht schaden", dachte er, nahm den Becher und trank. Kaum hatte er sich danach auf den Strohhaufen gelegt, fielen ihm die Augen zu und er schlief tief und fest ein.
    Als der Rabe angeflogen kam, sah er den schlafenden Mann. "Ach je!", krächzte sie traurig. Sie legte einen kleinen Zettel neben ihn und flog davon. Als der Mann aufwachte, las er: "Du hast geschlafen. Versuche es morgen noch einmal. Aber denk dran: Nichts essen, nichts trinken!"

    Am nächsten Tag ging der Mann wieder zur alten Frau. Diesmal bot sie ihm ein duftendes Stück Brot an. "Du musst hungrig sein", sagte sie. "Nimm doch ein kleines Stückchen."
    Der Magen des Mannes knurrte. "Ein winziger Bissen kann doch nichts ausmachen", dachte er, nahm das Brot und aß es. Und wieder, kaum lag er auf dem Stroh, schlief er ein.
    Der Rabe kam, sah ihn schlafen und seufzte noch tiefer. Wieder legte sie einen Zettel hin: "Schon wieder eingeschlafen! Morgen ist deine letzte Chance. Nimm bloß nichts von der alten Frau! Ich bringe dir dann etwas zu essen und zu trinken."

    Am dritten Tag war der junge Mann fest entschlossen. Die alte Frau bot ihm die leckersten Speisen und Getränke an, aber er schüttelte jedes Mal den Kopf: "Nein, danke, ich möchte wirklich nichts." Er legte sich auf den Strohhaufen und kämpfte gegen die Müdigkeit.
    Endlich, als es schon dämmerte, kam der Rabe geflogen. Diesmal hatte er ein kleines Körbchen dabei. "Hier", krächzte er leise, "iss und trink davon. Das darfst du."
    Der Mann aß das Brot und trank das Wasser, das der Rabe ihm gebracht hatte, und er fühlte sich sofort viel wacher. Er blieb wach und wartete.

    Als die Sonne am nächsten Morgen aufging, hörte er plötzlich ein Rauschen und Pferdegetrappel. Eine prächtige goldene Kutsche, gezogen von vier schneeweißen Pferden, fuhr vor. Und wer saß darin und stieg lächelnd aus? Nicht mehr der Rabe, sondern die wunderschöne Prinzessin! Ihre Augen strahlten.
    "Du hast es geschafft!", rief sie glücklich. "Du hast mich erlöst!"
    Der junge Mann war überglücklich. Die Prinzessin nahm ihn bei der Hand, und zusammen stiegen sie in die goldene Kutsche. Sie fuhren in ihr Königreich zurück, feierten eine riesige Hochzeit, und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute glücklich und zufrieden.

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