• Arm und Reich

    Grimms Märchen
    Stellt euch vor, Kinder, es gab eine Zeit, da wanderte ein ganz besonderer Gast über die Erde. Es war der liebe Gott selbst, der als müder Wanderer verkleidet war und sehen wollte, wie die Menschen so lebten.

    Eines Abends klopfte er an die Tür eines prächtigen Hauses. Ein reicher Mann öffnete. "Was willst du?", fragte er mürrisch.
    "Ach, ich bin so müde und hungrig", sagte der Wanderer. "Könnte ich vielleicht für eine Nacht bei Euch unterkommen?"
    Der reiche Mann musterte den Wanderer von oben bis unten. "Hm", brummte er. "Na gut, aber erwarte nicht zu viel." Er gab dem Wanderer ein hartes Stück Brot und einen kalten Platz in der Scheune. Dann ging er selbst in sein warmes Bett.

    Am nächsten Morgen zog der Wanderer weiter und kam zu einer kleinen, ärmlichen Hütte. Er klopfte an. Ein armer Mann mit freundlichen Augen öffnete die Tür.
    "Guten Abend", sagte der Wanderer. "Ich bin ein müder Reisender. Hättet Ihr vielleicht einen Platz für mich?"
    "Aber natürlich, kommt nur herein!", rief der arme Mann fröhlich. "Viel habe ich nicht, aber was ich habe, teile ich gern mit Euch." Er bat den Wanderer an seinen kleinen Tisch, teilte sein letztes Stück Brot und seine Suppe mit ihm und gab ihm sein eigenes Strohlager für die Nacht. Er selbst schlief auf dem harten Boden.

    Als der Morgen kam, sagte der Wanderer zum armen Mann: "Weil du so ein gutes Herz hast und dein Weniges mit mir geteilt hast, darfst du dir drei Dinge wünschen."
    Der arme Mann dachte kurz nach. "Nun", sagte er, "zuerst wünsche ich mir, dass meine Frau und ich immer gesund bleiben. Zweitens, dass wir jeden Tag genug zu essen haben, nicht viel, aber genug. Und drittens, weil unser Häuschen schon so alt ist, wünsche ich mir ein schönes, neues Haus, in dem wir glücklich leben können."
    "So soll es sein!", sagte der Wanderer. Und schwups, im selben Augenblick stand anstelle der alten Hütte ein wunderschönes neues Haus da, und in der Speisekammer war genug Essen für lange Zeit. Der arme Mann und seine Frau waren überglücklich und dankten dem Wanderer von Herzen.

    Der reiche Mann hörte bald von dem Glück des armen Mannes. Neidisch machte er sich auf die Suche nach dem Wanderer. Als er ihn fand, rief er: "He, Wanderer! Ich habe gehört, du erfüllst Wünsche! Ich will auch drei Wünsche haben!"
    Der Wanderer sah ihn an und sagte: "Gut, du sollst sie haben. Aber wähle weise."
    Der reiche Mann ritt auf seinem Pferd nach Hause und überlegte, was er sich wünschen sollte. Da stolperte sein Pferd. "Ach, du lahmes Tier!", rief der reiche Mann wütend. "Ich wünschte, du brichst dir den Hals!" Kaum hatte er es ausgesprochen, fiel das Pferd tot um. Sein erster Wunsch war erfüllt.
    "Oh nein!", jammerte der reiche Mann. Nun musste er den schweren Sattel selbst tragen. Als er zu Hause ankam, schimpfte seine Frau: "Was hast du getan? Unser bestes Pferd!"
    Der reiche Mann wurde noch wütender. "Ach, ich wünschte, du säßest auf dem Sattel fest und kämst nie wieder herunter!", schrie er. Und plumps, saß seine Frau auf dem Sattel fest und konnte sich nicht mehr bewegen. Das war sein zweiter Wunsch.
    Die Frau weinte und klagte, und der reiche Mann wusste nicht, wie er sie wieder herunterbekommen sollte. Er zog und zerrte, aber es half nichts. Schließlich seufzte er: "Ach, ich wünschte, meine Frau wäre wieder frei vom Sattel!" Und sofort war seine Frau wieder frei. Das war sein dritter Wunsch.

    Und so hatte der reiche Mann seine drei Wünsche verbraucht. Er hatte ein totes Pferd, eine zornige Frau und gar nichts gewonnen. Der arme Mann aber lebte mit seiner Frau glücklich und zufrieden in seinem neuen Haus, hatte immer genug zu essen und war gesund.
    Und das zeigt uns, Kinder: Ein gutes Herz und Freundlichkeit werden belohnt, aber Gier und Ärger führen zu nichts Gutem.

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