Das Mädchen und der Löwe
Grimms Märchen
Stellt euch vor, in einem großen Haus mit einem noch größeren Garten lebte ein Kaufmann mit seinen drei Töchtern.
Eines Tages musste der Kaufmann auf eine lange Reise gehen. Bevor er ging, fragte er seine Töchter, was er ihnen mitbringen solle. Die älteste Tochter wünschte sich ein wunderschönes Kleid. Die zweite Tochter wollte glitzernde Perlen und Juwelen. Aber die jüngste Tochter, die der Vater am allerliebsten hatte, sagte: "Lieber Vater, bring mir bitte ein singendes, springendes Löweneckerchen mit." Das ist ein ganz besonderer kleiner Vogel.
Der Kaufmann reiste los. Er kaufte das Kleid für die älteste und die Perlen für die zweite Tochter. Aber das singende, springende Löweneckerchen konnte er nirgends finden. Das machte ihn sehr traurig, denn er wollte seiner jüngsten Tochter doch so gerne eine Freude machen. Als er schon fast auf dem Heimweg war, kam er an einem großen, verwunschenen Schloss vorbei. Mitten im Schlossgarten stand ein Baum, und auf diesem Baum saß – tatsächlich! – ein singendes, springendes Löweneckerchen.
Der Kaufmann freute sich riesig und streckte die Hand aus, um den kleinen Vogel zu fangen. Doch in diesem Moment sprang ein riesiger Löwe aus dem Gebüsch und brüllte mit lauter Stimme: "Wer wagt es, mein singendes, springendes Löweneckerchen zu stehlen?" Der Kaufmann erschrak furchtbar. Der Löwe aber sprach: "Für diesen Diebstahl musst du sterben! Es sei denn, du versprichst mir das Erste, was dir zu Hause begegnet."
Der Kaufmann dachte an seinen kleinen Hund, der ihm immer als Erster entgegenlief, und versprach es dem Löwen, um sein Leben zu retten. Er bekam das Löweneckerchen und machte sich auf den Heimweg.
Als er aber zu Hause ankam, wer rannte ihm als Erstes freudig entgegen? Nicht sein Hund, sondern seine jüngste, liebste Tochter! Sie lachte und freute sich über das singende, springende Löweneckerchen. Dem Kaufmann aber wurde das Herz ganz schwer, als er daran dachte, was er dem Löwen versprochen hatte. Er erzählte seiner Tochter unter Tränen, was geschehen war.
Die Tochter war sehr tapfer. Sie tröstete ihren Vater und sagte: "Lieber Vater, ein Versprechen muss man halten. Ich werde zum Löwen gehen."
Sie verabschiedete sich und ging zum Schloss im Wald. Dort wurde sie freundlich empfangen. Der Löwe war nämlich ein verwunschener Prinz. Am Tag war er ein Löwe, aber in der Nacht wurde er zu einem schönen jungen Mann. Die Kaufmannstochter und der Prinz heirateten und lebten glücklich zusammen im Schloss. Er war nur nachts ein Mensch, aber sie liebten sich sehr.
Eines Tages hörte die junge Frau, dass ihre älteste Schwester heiraten würde. Sie wollte so gerne zur Hochzeit gehen. Der Löwenprinz sagte: "Ich weiß, wie sehr du deine Familie vermisst. Du darfst gehen, aber du musst mir versprechen, sehr vorsichtig zu sein. Wenn auch nur ein einziger Lichtstrahl auf mich fällt, während ich in meiner Menschengestalt bin, dann verwandle ich mich für sieben Jahre in eine Taube und muss fortfliegen."
Sie versprach, gut aufzupassen. Auf der Hochzeit feierte sie fröhlich mit ihrer Familie. Ihr Mann war in einem abgedunkelten Zimmer. Doch durch einen unglücklichen Zufall wurde eine Tür einen Spalt breit geöffnet, gerade als er in seiner Menschengestalt war. Ein heller Lichtstrahl fiel auf ihn, und im selben Augenblick verwandelte er sich in eine weiße Taube.
Bevor die Taube davonflog, sagte sie zu seiner Frau: "Sieben Jahre lang musst du mir nun durch die Welt folgen. Alle sieben Schritte werde ich eine weiße Feder fallen lassen, und alle sieben Federn einen roten Blutstropfen. Daran kannst du meinen Weg erkennen."
Die junge Frau weinte bitterlich, aber sie nahm all ihren Mut zusammen und folgte der weißen Taube. Sieben lange Jahre wanderte sie, folgte den weißen Federn und den roten Blutstropfen. Ihre Füße taten weh, und oft war sie müde und hungrig, aber sie gab nicht auf.
Endlich waren die sieben Jahre fast vorbei. Da sah sie, wie die Taube mit einem bösen Drachen kämpfte. Die Taube besiegte den Drachen, doch als der Drache besiegt war, verwandelte er sich in eine falsche Prinzessin. Diese falsche Prinzessin nahm den Prinzen, der nun wieder ein Mensch war, aber sich an nichts mehr erinnern konnte, mit auf ihr Schloss.
Die treue Frau war verzweifelt. Sie wanderte weiter und kam zur Sonne. "Liebe Sonne", bat sie, "du scheinst über die ganze Welt. Hast du meinen Prinzen gesehen?" Die Sonne hatte Mitleid und schenkte ihr ein kleines goldenes Kästchen. "Öffne es, wenn du in großer Not bist", sagte sie.
Danach kam sie zum Mond. "Lieber Mond", bat sie, "du leuchtest in der Nacht. Weißt du, wo mein Prinz ist?" Der Mond schenkte ihr ein kleines goldenes Ei und sagte: "Schlag es auf, wenn du in großer Not bist."
Zuletzt kam sie zum Nachtwind. "Lieber Nachtwind", bat sie, "du wehst überall hin. Kannst du mir helfen?" Der Nachtwind schenkte ihr eine goldene Nuss und sagte: "Knacke sie auf, wenn du in großer Not bist."
Mit diesen Geschenken kam sie schließlich zum Schloss der falschen Prinzessin. Sie hörte, dass der Prinz die falsche Prinzessin heiraten sollte.
Am ersten Abend öffnete sie das goldene Kästchen der Sonne. Darin war ein wunderschönes, goldenes Kleid, so strahlend wie die Sonne selbst. Als die falsche Prinzessin das Kleid sah, wollte sie es unbedingt haben. "Du bekommst das Kleid", sagte die Frau, "wenn ich dafür eine Nacht vor der Tür des Schlafzimmers meines Prinzen wachen darf." Die falsche Prinzessin stimmte zu, gab dem Prinzen aber heimlich einen Schlaftrunk, sodass er tief und fest schlief und nichts hörte.
Am nächsten Abend schlug die Frau das goldene Ei des Mondes auf. Heraus kam eine goldene Henne mit zwölf winzigen, piepsenden goldenen Küken. Die falsche Prinzessin wollte auch diese unbedingt haben. Wieder tauschte die Frau die goldenen Tiere gegen eine Nacht vor der Tür des Prinzen. Und wieder gab die falsche Prinzessin dem Prinzen einen Schlaftrunk.
Am dritten Abend knackte die Frau die goldene Nuss des Nachtwindes auf. Darin war ein noch prächtigeres Kleid, das funkelte wie tausend Sterne. Die falsche Prinzessin war ganz verrückt danach. Wieder bat die Frau darum, eine Nacht vor der Tür des Prinzen verbringen zu dürfen. Diesmal aber hatte ein Diener des Prinzen Mitleid mit der traurigen Frau. Er warnte den Prinzen vor dem Schlaftrunk und riet ihm, nur so zu tun, als ob er ihn trinke.
Der Prinz tat, wie ihm geraten wurde. In der Nacht hörte er, wie seine wahre Frau vor seiner Tür saß, von ihrer langen Reise erzählte und leise weinte. Da erinnerte er sich an alles! Er sprang auf, öffnete die Tür und nahm seine geliebte Frau in die Arme.
Schnell beschlossen sie zu fliehen, bevor die falsche Prinzessin etwas merkte. Der Nachtwind, der ihr schon einmal geholfen hatte, schickte ihnen einen riesigen, starken Vogel, einen Greif. Der Greif trug sie beide sicher und schnell über alle Berge und Täler zurück in ihr eigenes Reich.
Die falsche Prinzessin ärgerte sich furchtbar, als sie am nächsten Morgen merkte, dass die beiden fort waren, aber sie konnte nichts mehr tun. Der Prinz und seine treue Frau aber feierten ein großes Fest und lebten glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage. Und das singende, springende Löweneckerchen? Das sang jeden Tag die schönsten Lieder für sie.
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