Die zwölf Brüder
Grimms Märchen
Stellt euch vor, in einem Land, wo die Bäume noch flüstern konnten, lebte ein König mit seiner Königin. Sie hatten schon zwölf Söhne, einen frecher als den anderen! Doch der König wünschte sich sehnlichst ein Töchterchen. Eines Tages sagte er zu seiner Frau: "Wenn unser dreizehntes Kind ein Mädchen wird, dann müssen die zwölf Jungen leider fortgehen, damit sie allein mein ganzes Königreich erbt." Er ließ sogar schon zwölf kleine Bettchen für den Notfall zimmern, falls sie gehen müssten.
Die Königin war darüber sehr, sehr traurig. Als die Zeit näher rückte, rief sie ihren jüngsten Sohn, den kleinen Benjamin, zu sich. "Lieber Benjamin", flüsterte sie, "nimm deine elf Brüder und versteckt euch tief im Wald. Ich werde einen Turm besteigen. Wenn ich ein Söhnchen bekomme, hisse ich eine weiße Fahne, dann dürft ihr jubelnd zurückkommen. Bekomme ich aber ein Töchterchen, weht eine rote Fahne. Dann müsst ihr so schnell ihr könnt fliehen und euch in Acht nehmen."
Die zwölf Brüder waren traurig, aber sie gehorchten. Jeden Tag schickten sie einen zum Turm, um nach der Fahne Ausschau zu halten. Elf Tage lang wehte keine Fahne. Am zwölften Tag aber, als Benjamin Wache hielt, sah er sie: eine rote Fahne, die im Wind flatterte. Oh je! Das bedeutete, ein Schwesterchen war geboren.
Die Brüder waren so wütend und enttäuscht, dass sie schworen: "Weil ein Mädchen uns unser Zuhause genommen hat, soll jedes Mädchen, das uns begegnet, vorsichtig sein!" Dann zogen sie noch tiefer in den Wald, bis sie zu einem kleinen, verwunschenen Häuschen kamen, das leer stand. "Hier bleiben wir!", riefen sie. Die elf älteren Brüder gingen jeden Tag auf die Jagd, und Benjamin, der Jüngste und Liebste, blieb zu Hause, machte sauber und kochte leckeres Essen.
Zehn Jahre vergingen. Das kleine Schwesterchen im Schloss war inzwischen zu einem hübschen Mädchen herangewachsen, mit einem Herzen aus Gold. Eines Tages, als im Schloss Wäsche gewaschen wurde, sah sie zwölf kleine Männerhemden. "Mütterchen", fragte sie die Königin, "wem gehören denn diese winzigen Hemden? Für den Vater sind sie doch viel zu klein!" Da seufzte die Königin und erzählte ihr mit schwerem Herzen von ihren zwölf Brüdern, die wegen ihr das Schloss verlassen mussten.
Als das Mädchen das hörte, war sie fest entschlossen. "Ich muss meine Brüder finden!", sagte sie. Sie packte die zwölf Hemden ein und machte sich heimlich auf den Weg in den großen, dunklen Wald.
Nach langem Suchen kam sie endlich zu dem verwunschenen Häuschen. Sie klopfte an. Benjamin, der gerade Suppe kochte, machte die Tür auf und staunte. Vor ihm stand ein wunderschönes Mädchen. "Wer bist du und was suchst du?", fragte er. "Ich bin deine Schwester und suche meine zwölf Brüder", antwortete sie und zeigte ihm eines der Hemdchen. Benjamin freute sich riesig, aber er sagte auch: "Ach, liebe Schwester, wir haben geschworen, uns an jedem Mädchen zu rächen. Versteck dich schnell unter der großen Wanne, bevor die anderen heimkommen!"
Das tat sie. Als die elf Brüder hungrig von der Jagd kamen, roch es nicht nur nach Suppe. "Benjamin", rief der Älteste, "ist alles in Ordnung? Die Luft ist so anders heute." Benjamin lächelte verschmitzt. "Ist euch denn nichts Neues begegnet?", fragte er. "Nein", sagten sie. "Nun", sagte Benjamin, "ich aber habe etwas Neues! Kommt hervor, Schwesterchen!"
Er hob die Wanne hoch, und da stand sie. Zuerst waren die Brüder erschrocken und ein bisschen böse, aber als sie sahen, wie lieb und gut ihre Schwester war, schlossen sie sie sofort in ihre Herzen. Von nun an lebten sie glücklich zusammen. Die Schwester half Benjamin im Haushalt, und alles war wunderbar.
Eines Tages wollte die Schwester ihren Brüdern eine besondere Freude machen. Im Gärtchen vor dem Haus wuchsen zwölf wunderschöne, weiße Lilien. "Die pflücke ich für meine lieben Brüder!", dachte sie. Kaum aber hatte sie die zwölfte Lilie abgebrochen, da gab es einen lauten Knall! Die zwölf Brüder verwandelten sich vor ihren Augen in zwölf schwarze Raben und flogen krächzend davon. Auch das Häuschen und der Garten waren verschwunden.
Das arme Mädchen war ganz allein im Wald. Da erschien eine alte, weise Frau und sagte: "Kind, was hast du getan? Diese Lilien waren deine Brüder. Nun sind sie für sieben Jahre Raben. Aber du kannst sie erlösen. Dafür darfst du sieben Jahre lang kein einziges Wort sprechen und kein einziges Mal lachen. Schaffst du das?"
Das Mädchen nickte entschlossen. Sie kletterte auf einen hohen Baum und begann ihr Schweigen. Sie spann Wolle und dachte an ihre Brüder. Eines Tages kam ein junger König im Wald vorbei, der auf der Jagd war. Er sah das schöne, stumme Mädchen im Baum und sein Herz entflammte in Liebe für sie. Er bat sie, seine Frau zu werden. Sie nickte nur.
Sie heirateten, und der König liebte seine stumme Königin sehr. Aber die Mutter des Königs war eine böse Frau. Sie mochte die neue Königin nicht. Als die junge Königin ihr erstes Kind bekam, ein Söhnchen, stahl die böse Schwiegermutter es heimlich und beschmierte den Mund der schlafenden Königin mit Blut. Dann behauptete sie, die Königin hätte ihr eigenes Kind gefressen. Weil die Königin ja nicht sprechen durfte, um sich zu verteidigen, und der König seine Mutter sehr achtete, glaubte er ihr schließlich, wenn auch schweren Herzens. Das Gleiche passierte beim zweiten und dritten Kind.
Nun war das Maß voll. Der König, obwohl er seine Frau liebte, musste sie zum Tode auf dem Scheiterhaufen verurteilen. Als die Flammen schon loderten, waren die sieben Jahre des Schweigens und Nicht-Lachens um – auf die Sekunde genau!
Da, was war das? Zwölf schwarze Raben kamen durch die Luft geschwirrt. Sie landeten neben dem Scheiterhaufen, und im selben Augenblick verwandelten sie sich zurück in die zwölf Prinzen! Nun konnte die Schwester endlich sprechen! "Meine liebsten Brüder!", rief sie. Sie erzählte dem König die ganze Geschichte, von der roten Fahne, den Lilien und dem bösen Zauber. Die Brüder fanden auch die drei gestohlenen Kinder, die die böse Schwiegermutter versteckt hatte.
Der König war überglücklich. Die böse Schwiegermutter wurde zur Strafe in ein Fass mit siedendem Öl und giftigen Schlangen gesteckt. Aber der König, die Königin, ihre drei Kinder und die zwölf Brüder lebten von nun an glücklich und zufrieden zusammen bis an ihr Lebensende. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann lachen und reden sie noch heute!
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