Der Hund und der Sperling
Grimms Märchen
Ein Schäferhund, nennen wir ihn einfach mal Wuff, hatte es gar nicht gut. Sein Herr, ein Schäfer, war oft schlecht gelaunt und gab Wuff kaum etwas zu fressen. Wuff war so hungrig, dass sein Magen knurrte wie ein kleiner Bär. Eines Tages, als er wieder einmal hungrig durch die Stadt trottete, traf er einen kleinen Spatz.
"Du siehst aber traurig aus", zwitscherte der Spatz. "Und so dünn!"
"Ach, Spätzchen", seufzte Wuff, "ich habe solchen Hunger, aber mein Herr gibt mir nichts."
Da hatte der Spatz Mitleid. "Warte hier!", piepste er und flog davon. Bald kam er mit einem kleinen Stück Fleisch im Schnabel zurück, das er vor einer Metzgerei stibitzt hatte. Wuff verschlang es gierig.
"Und jetzt zum Bäcker!", rief der Spatz und brachte kurz darauf ein Stückchen Brot.
So ging das eine Weile. Der Spatz versorgte Wuff mit Essen, und die beiden wurden dicke Freunde.
Eines Tages, nachdem Wuff sich satt gefressen hatte, legte er sich auf eine Landstraße, um ein Nickerchen in der Sonne zu machen. Er war so müde, dass er tief und fest einschlief.
Da kam ein Fuhrmann mit einem schweren Wagen angefahren, der mit zwei Fässern Wein beladen war und von zwei starken Pferden gezogen wurde. Der Spatz sah den Wagen kommen und rief: "Fuhrmann, halt an! Du überfährst sonst meinen Freund, den Hund!"
Aber der Fuhrmann brummte nur: "Was kümmert mich dein Hund?", knallte mit der Peitsche und fuhr einfach weiter. Rums! Der Wagen rollte direkt über den armen Wuff, und er war auf der Stelle tot.
Der kleine Spatz war furchtbar traurig und sehr, sehr wütend. "Das sollst du mir büßen, du böser Fuhrmann!", schrie er und flog dem Wagen hinterher.
Er pickte so lange an dem Spundloch eines Weinfasses, bis der Zapfen herausfiel und der ganze Wein auf die Straße lief.
Als der Fuhrmann das bemerkte, rief er: "Ach, ich armer Mann!"
"Noch nicht arm genug!", zwitscherte der Spatz und flog zu einem der Pferde. Er pickte dem Pferd so in die Augen, dass es scheute. Der Fuhrmann holte seine Axt, um den Spatz zu erschlagen, aber der Spatz flog geschickt davon, und der Fuhrmann traf sein eigenes Pferd am Kopf, sodass es tot umfiel.
"Ach, ich unglücklicher Mann!", jammerte der Fuhrmann.
"Noch nicht unglücklich genug!", rief der Spatz und tat dasselbe beim zweiten Pferd. Wieder schwang der Fuhrmann die Axt, traf aber wieder sein Pferd, und auch das zweite Pferd lag tot da.
Nun musste der Fuhrmann den Wagen stehen lassen und ging wütend und zu Fuß nach Hause.
"Ach, meine armen Pferde, mein ganzer Wein!", klagte er seiner Frau.
"Und siehst du nicht den bösen Vogel da am Fenster?", fragte seine Frau. "Der sitzt da und frisst unsere Getreidekörner!"
Der Fuhrmann sah den Spatz, der an einem Sack pickte. Wütend nahm er wieder seine Axt und warf sie nach dem Spatz. Aber der Spatz flog davon, und die Axt traf das Fenster, das in tausend Scherben zersprang.
Der Spatz flog nun ins Haus. Der Fuhrmann und seine Frau jagten ihn mit Besen und Stöcken durch alle Zimmer. Dabei schlugen sie all ihre schönen Möbel kaputt: Tische, Stühle, Spiegel, alles ging zu Bruch.
"Ach, wir elenden Menschen!", heulten sie.
"Noch nicht elend genug!", zwitscherte der Spatz und versteckte sich im Kamin.
Der Fuhrmann, außer sich vor Wut, kletterte aufs Dach und warf die Axt in den Kamin hinunter, um den Spatz zu treffen. Aber die Axt traf nicht den Spatz, sondern fiel herunter und spaltete das ganze Haus entzwei. Der Fuhrmann und seine Frau hatten nun gar nichts mehr.
Der kleine Spatz aber flog unversehrt davon und zwitscherte fröhlich, denn er hatte seinen Freund Wuff gerächt.
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