• Der goldene Vogel

    Grimms Märchen
    Ein König besaß in seinem Schlossgarten einen Wunderbaum, der jedes Jahr goldene Äpfel trug. Doch eines Morgens war ein Apfel verschwunden! Der König war sehr aufgebracht. Er befahl seinen drei Söhnen, nacheinander Wache zu halten.

    Der älteste Sohn passte in der ersten Nacht auf, aber er wurde müde und schlief ein. Wieder fehlte ein Apfel. In der nächsten Nacht versuchte es der zweite Sohn, aber auch er nickte weg, und zack – noch ein Apfel war weg!

    Nun kam der jüngste Sohn an die Reihe. Alle lachten ihn ein bisschen aus, weil er oft so verträumt war. Aber er war fest entschlossen. Mitten in der Nacht, als alles still war, raschelte es in den Blättern. Ein Vogel, ganz aus Gold, flog herbei und pickte nach einem Apfel. Schnell schoss der Prinz einen Pfeil ab. Er traf den Vogel nicht, aber eine seiner goldenen Federn fiel zu Boden.

    Der König war so begeistert von der Feder, dass er sagte: "Diese Feder ist mehr wert als mein ganzes Königreich! Ich muss diesen goldenen Vogel haben."

    Der älteste Sohn machte sich zuerst auf den Weg. Im Wald traf er einen schlauen Fuchs. Der Fuchs sagte: "Ich weiß, wo der goldene Vogel ist. Aber hör gut zu: Du kommst zu einem Dorf mit zwei Gasthäusern. Eins ist hell und fröhlich, das andere sieht armselig aus. Geh in das armselige!" Aber der Prinz dachte: "Was weiß so ein Fuchs schon?" und ging in das fröhliche Gasthaus. Dort vergaß er den Vogel und kam nie zurück.

    Dann zog der zweite Sohn los. Auch er traf den Fuchs, und auch er hörte nicht auf den guten Rat. Auch er blieb im fröhlichen Gasthaus hängen.

    Zuletzt bat der jüngste Prinz, es versuchen zu dürfen. Er traf ebenfalls den Fuchs. Der Fuchs gab ihm denselben Rat. Und weil der jüngste Prinz freundlich war, hörte er zu und versprach, in das armselige Gasthaus zu gehen. Dort war es ruhig, und er konnte gut schlafen.

    Am nächsten Morgen wartete der Fuchs schon auf ihn. "Setz dich auf meinen Schwanz", sagte der Fuchs, "dann geht es schneller." Und schwupps, sie rasten davon. Sie kamen zu einem Schloss. Der Fuchs sagte: "Hier ist der goldene Vogel in einem Holzkäfig. Daneben steht ein prunkvoller Goldkäfig. Nimm den Vogel, aber tu ihn in den Holzkäfig, nicht in den goldenen!"

    Der Prinz fand den Vogel. Aber der goldene Käfig glänzte so schön, dass er dachte: "So ein prächtiger Vogel gehört doch in einen goldenen Käfig." Kaum hatte er den Vogel in den Goldkäfig gesetzt, schrie der Vogel laut los. Wachen kamen gestürzt und nahmen den Prinzen gefangen. Der König dieses Schlosses sagte: "Du kannst den Vogel haben, wenn du mir das goldene Pferd bringst, das schneller ist als der Wind."

    Traurig ging der Prinz davon und traf wieder den Fuchs. "Siehst du", sagte der Fuchs, "hättest du nur auf mich gehört." Aber er half ihm trotzdem. "Das goldene Pferd steht in einem Stall. Daneben liegt ein einfacher Ledersattel und ein prächtiger Goldsattel. Nimm das Pferd, aber lege ihm den Ledersattel auf."

    Der Prinz fand das Pferd. Es war wunderschön! Und wieder dachte er: "So ein edles Pferd braucht einen Goldsattel." Kaum berührte der Goldsattel das Pferd, wieherte es so laut, dass die Wachen kamen und ihn festnahmen. Der König dieses Schlosses sagte: "Du kannst das Pferd haben, wenn du mir die wunderschöne Prinzessin vom goldenen Schloss bringst."

    Wieder traf der Prinz den Fuchs, der seufzte. "Ich helfe dir noch einmal", sagte der Fuchs. "Wenn du zur Prinzessin kommst, lass sie sich von ihren Eltern verabschieden, aber gib ihr keinen Kuss zum Abschied."

    Der Prinz kam zum goldenen Schloss und die Prinzessin war so schön, dass er alles andere vergaß. Sie wollte sich verabschieden, und er hätte sie fast geküsst, aber der Fuchs zwickte ihn ins Bein. So nahm er die Prinzessin schnell mit.

    Auf dem Rückweg half der Fuchs dem Prinzen, das goldene Pferd zu bekommen (diesmal mit dem Ledersattel!) und dann den goldenen Vogel (diesmal mit dem Holzkäfig!). Nun hatte der Prinz alles.

    Da sagte der Fuchs: "Jetzt tu mir einen letzten Gefallen. Schieß mich tot und hau mir Kopf und Pfoten ab." Der Prinz erschrak. "Das kann ich nicht tun, lieber Fuchs! Du hast mir so geholfen." Aber der Fuchs bat ihn immer wieder, bis der Prinz es schweren Herzens tat. In dem Moment, als er es tat, verwandelte sich der Fuchs in einen jungen Mann – es war der Bruder der Prinzessin, der verzaubert gewesen war!

    Als der Prinz mit der Prinzessin, dem Pferd und dem Vogel nach Hause kam, waren seine Brüder sehr neidisch. Sie hatten gehört, dass er mit großen Schätzen zurückkehrte, und lauerten ihm auf. Sie stießen ihn in einen tiefen Brunnen und nahmen die Prinzessin, das Pferd und den Vogel mit zum König. Sie sagten, sie hätten alles errungen.

    Aber der Vogel sang nicht, das Pferd fraß nicht, und die Prinzessin weinte nur. Der jüngste Prinz aber war nicht tot. Der Brunnen war trocken, und er fiel weich. Und wer kam ihm zu Hilfe? Sein Freund, der verwandelte Fuchs! Er half ihm aus dem Brunnen.

    Als der jüngste Prinz in Lumpen gekleidet ins Schloss kam, begann der Vogel plötzlich wunderschön zu singen, das Pferd fraß genüsslich, und die Prinzessin hörte auf zu weinen und lächelte ihn an. Der alte König verstand sofort, was geschehen war.

    Die bösen Brüder wurden bestraft, und der jüngste Prinz heiratete die wunderschöne Prinzessin. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute glücklich und zufrieden mit dem goldenen Vogel und dem goldenen Pferd.

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