Die beiden Brüder
Andersens Märchen
In einem Land, gar nicht so weit von hier, da gab es einmal zwei Brüder. Der eine hieß Kaspar und der andere hieß Felix.
Kaspar war sehr reich. Er wohnte in einem riesengroßen Haus mit einem Garten so groß wie ein Fußballfeld. Er hatte viele Goldmünzen und trug feine Kleider. Aber Kaspar war oft allein und manchmal ein bisschen brummig, weil er niemanden hatte, mit dem er seinen Reichtum teilen konnte.
Felix hingegen war arm. Er wohnte in einem winzigkleinen Häuschen, und das war immer voller Leben! Felix hatte nämlich eine Frau und ganz viele Kinder – so viele, dass man sie kaum zählen konnte. Es war oft laut und wuselig, aber auch sehr fröhlich. Sie hatten nicht viel Geld, aber immer genug zu essen und ganz viel Liebe füreinander.
Eines Tages bekam Felix noch ein Baby. "Oh je," dachte Felix, "noch ein hungriger Mund!" Aber dann lächelte er, denn jedes Kind war ein Geschenk. Er brauchte aber einen Paten für das Baby. Also ging er zu seinem reichen Bruder Kaspar.
"Lieber Kaspar," sagte Felix, "wir haben wieder ein Baby bekommen. Möchtest du sein Pate sein?"
Kaspar runzelte die Stirn. Er dachte an das laute, volle Haus von Felix und an die vielen Kinder. "Na gut," brummte er, "aber nur, weil du mein Bruder bist."
Als der Tag der Taufe kam, ging Kaspar widerwillig zum Haus seines Bruders. Es war tatsächlich laut, die Kinder lachten und tobten. Kaspar fühlte sich ein bisschen unwohl.
Nach der Feier war Kaspar sehr müde von all dem Trubel. Er setzte sich in einen Sessel und schlief ein.
Und im Traum erschien ihm eine freundliche Fee. Sie lächelte Kaspar an und sagte: "Schau genau hin, Kaspar!"
Die Fee zeigte ihm Bilder. Zuerst sah er die Kinder von Felix, wie sie erwachsen wurden. Ein Sohn wurde ein tüchtiger Bäcker, der die leckersten Brote backte. Eine Tochter wurde eine kluge Lehrerin, die vielen Kindern das Lesen beibrachte. Ein anderer Sohn wurde ein berühmter Musiker, dessen Lieder die Menschen glücklich machten. Alle Kinder von Felix waren fleißig, freundlich und hatten ein gutes Leben.
Dann zeigte die Fee Kaspar ein anderes Bild. "Und das," sagte sie, "wären deine Kinder gewesen, wenn du welche hättest und sie nur mit Geld und ohne Liebe aufgewachsen wären." Kaspar sah traurige Kinder, die nicht wussten, was sie mit sich anfangen sollten und die niemanden glücklich machten.
Kaspar wachte mit einem Ruck auf. Sein Herz klopfte. Er schaute sich in dem kleinen, lauten Haus um. Er sah Felix, wie er liebevoll sein Baby im Arm hielt. Er sah die Kinder, wie sie miteinander spielten und lachten.
Da verstand Kaspar plötzlich. Reichtum war nicht nur Gold und ein großes Haus. Wahrer Reichtum war Liebe, Freude und eine Familie, die zusammenhält.
Von diesem Tag an war Kaspar anders. Er besuchte Felix und seine Familie oft. Er brachte nicht nur Geschenke mit, sondern spielte mit den Kindern, erzählte Geschichten und lachte mit ihnen. Er half Felix, wo er konnte, und sein großes Haus war nicht mehr so leer und still. Es war oft erfüllt vom Lachen der Kinder seines Bruders.
Kaspar war nicht mehr brummig. Er hatte gelernt, dass das größte Glück darin besteht, sein Herz und sein Leben mit anderen zu teilen. Und so lebten die beiden Brüder und ihre Familien noch viele Jahre glücklich und zufrieden, jeder auf seine Weise reich.
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