• Die Wassermühle

    Andersens Märchen
    An einem Bach, der fröhlich vor sich hin plätscherte, stand eine alte, knarrende Mühle. In dieser Mühle wohnte ein junger Müller. Nennen wir ihn einfach Klaus. Klaus war ein fleißiger Kerl, aber das Glück schien ihn nicht oft zu besuchen, und sein Geldbeutel war meistens ziemlich leer.

    Eines schönen Morgens, als die Sonne gerade ihre ersten goldenen Strahlen auf das Wasser malte, sah Klaus etwas ganz und gar Erstaunliches. Am Ufer des Baches stand ein Mädchen, so wunderschön, als wäre sie direkt aus einem Sonnenstrahl gesprungen. Ihr Haar glänzte wie nasses Gold, und ihre Augen hatten die Farbe des tiefen Wassers.

    Klaus war wie verzaubert. Er ging langsam auf sie zu, und das Mädchen lächelte ihn an. Sie begannen zu reden, und es fühlte sich an, als würden sie sich schon ewig kennen. Von diesem Tag an trafen sie sich oft. Das Mädchen kam immer aus dem Bach, und wenn sie ging, verschwand sie wieder im Wasser.

    "Wer bist du?", fragte Klaus eines Tages.
    Das Mädchen sah ihn ernst an. "Ich bin ein Kind des Wassers. Ich kann bei dir bleiben und deine Frau werden, wenn du mir eines versprichst: Du darfst mich niemals fragen, woher genau ich komme, und du darfst niemals in den Bach schauen, wenn ich hineingehe oder herauskomme, um mich zu suchen."
    Klaus, überglücklich, versprach es ihr feierlich. "Niemals werde ich das tun!", rief er.

    So heirateten sie, und eine fröhliche Zeit begann in der alten Mühle. Das Mädchen, nennen wir sie Lina, war eine wunderbare Frau. Sie lachte viel, half Klaus bei der Arbeit, und bald tollten auch kleine Kinderfüße durch die Mühle. Die Mühle klapperte und sang, und alles schien perfekt.

    Doch nach vielen glücklichen Jahren begann ein kleiner Zweifel in Klaus' Herzen zu nagen. Manchmal, wenn Lina zum Bach ging, wurde er furchtbar neugierig. "Was ist denn so geheimnisvoll daran?", dachte er. "Ein kleiner Blick kann doch nicht schaden."

    An einem Abend, als Lina wieder zum Bach ging, um wie sie sagte, "ihre Schwestern zu besuchen", konnte Klaus nicht widerstehen. Er schlich ihr heimlich nach, versteckte sich hinter einem dicken Weidenbaum und spähte neugierig zum Wasser. Er sah, wie Lina langsam in den Bach glitt. Und in dem Moment, als er sie im Wasser verschwinden sah, hörte er einen leisen, traurigen Seufzer. Dann war sie fort.

    Klaus rannte zum Ufer. "Lina! Lina!", rief er. Aber nur das Plätschern des Baches antwortete ihm. Er starrte ins Wasser, aber er konnte nichts sehen außer den Kieselsteinen am Grund.
    Sein Herz wurde schwer wie ein Mühlstein. Er hatte sein Versprechen gebrochen.

    Lina kam nie wieder zurück. Klaus blieb allein mit seinen Kindern und seiner Trauer. Die Mühle klapperte weiter, Tag für Tag, aber ihr Lied klang nun nicht mehr fröhlich, sondern erinnerte Klaus immer an sein verlorenes Glück und an das Mädchen aus dem Wasser. Und manchmal, wenn der Wind leise durch die Blätter der Weiden am Bach strich, glaubte er, Linas sanfte Stimme zu hören, die ihm zuflüsterte, wie wichtig Vertrauen ist.

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