• Der Schatten

    Andersens Märchen
    In einem Land, wo die Sonne so heiß vom Himmel brannte, dass die Blumen ihre Köpfchen hängen ließen, lebte ein kluger Mann. Er kam aus einem kühlen Land und war diese Hitze gar nicht gewohnt. Jeden Abend saß er auf seinem Balkon und schaute hinüber zum Haus gegenüber. Dort war es immer ganz still und geheimnisvoll. "Wer da wohl wohnt?", dachte er oft.

    Sein eigener Schatten tanzte dabei auf der Wand hinter ihm, mal lang, mal kurz, je nachdem, wie die Lampe stand. Eines Abends sagte der Mann zum Spaß zu seinem Schatten: "Du könntest doch mal rüberhuschen und nachsehen, was in dem Haus gegenüber los ist. Sei aber pünktlich wieder da!"

    Und schwuppdiwupp, der Schatten machte sich selbstständig! Er löste sich vom Mann, glitt vom Balkon, über die Straße und verschwand durch die offene Tür des Nachbarhauses. Der gelehrte Mann rieb sich die Augen. "Das war ja nur ein Scherz!", murmelte er, aber sein Schatten war weg.

    Am nächsten Morgen, als die Sonne aufging, bemerkte der Mann, dass ihm ein neuer Schatten gewachsen war. Aber dieser war ganz klein und blass, fast unsichtbar. "Na toll", dachte der Mann, "mein alter, kräftiger Schatten ist einfach abgehauen."

    Viele Jahre vergingen. Der Mann reiste durch die Welt, schrieb kluge Bücher und wurde berühmt. An seinen alten Schatten dachte er nur noch selten.

    Doch eines Tages klopfte es an seiner Tür. Herein trat ein unglaublich elegant gekleideter Herr. Er war so fein angezogen, dass man ihn für einen Prinzen halten konnte. "Guten Tag", sagte der feine Herr. "Sie erinnern sich vielleicht nicht mehr an mich?"
    Der gelehrte Mann schüttelte den Kopf.
    "Ich bin's, Ihr alter Schatten!", lachte der Herr. "Ich bin reich und angesehen geworden, seit ich damals in das Haus gegenüber geschlüpft bin. Dort wohnte die Poesie, und ich habe viel von ihr gelernt!"

    Der gelehrte Mann staunte nicht schlecht. Sein Schatten war ein richtiger Mensch geworden!
    "Nun", sagte der Schatten-Herr, "ich bin so wichtig geworden, ich brauche selbst einen Schatten. Wollen Sie mein Schatten sein? Ich bezahle Sie gut, und Sie können immer in meiner Nähe sein."
    Der gelehrte Mann war erst ein bisschen beleidigt. Er, ein kluger Kopf, sollte der Schatten seines eigenen Schattens werden? Aber er war nicht mehr der Jüngste, und das Geld konnte er gut gebrauchen. "Na gut", sagte er, "aber nur, wenn niemand erfährt, dass ich eigentlich der Mensch bin und du mein Schatten warst."
    "Abgemacht!", sagte der Schatten-Herr.

    So reisten sie zusammen. Der Schatten-Herr wurde überall mit großem Pomp empfangen, und der gelehrte Mann ging immer einen Schritt hinter ihm, wie es sich für einen Schatten gehört. Manchmal vergaß der Schatten-Herr, wer der andere wirklich war, und wurde ein bisschen hochnäsig.

    Sie kamen in ein Königreich, wo eine wunderschöne und sehr kluge Prinzessin lebte. Der Schatten-Herr verliebte sich sofort in sie und wollte sie heiraten. Die Prinzessin fand den eleganten Herrn auch ganz nett, aber etwas kam ihr komisch vor.
    "Sagen Sie mal", fragte sie ihn eines Tages, "warum haben Sie eigentlich keinen Schatten?"
    Der Schatten-Herr lachte schlau. "Aber natürlich habe ich einen Schatten!", sagte er und zeigte auf den gelehrten Mann, der hinter ihm stand. "Er ist nur ein ganz besonderer Schatten. Er kann sprechen und sieht aus wie ein Mensch. Ist das nicht erstaunlich?"
    Die Prinzessin fand das sehr merkwürdig, aber auch interessant.

    Der gelehrte Mann dachte: "Jetzt ist meine Chance! Ich muss der Prinzessin die Wahrheit sagen!" Er versuchte, mit ihr allein zu sprechen, aber der Schatten-Herr passte höllisch auf.
    Eines Abends, als der Schatten-Herr gerade nicht hinsah, flüsterte der gelehrte Mann der Prinzessin zu: "Glauben Sie ihm nicht! Ich bin der echte Mensch, und er ist nur mein entlaufener Schatten!"

    Doch der Schatten-Herr hatte Ohren wie ein Luchs und hörte es. Er wurde kreidebleich vor Schreck, dann feuerrot vor Wut. Schnell ging er zur Prinzessin. "Liebste Prinzessin", sagte er mit trauriger Stimme, "mein armer Schatten ist leider ein bisschen verwirrt. Er bildet sich ein, er sei ein Mensch und ich sei sein Schatten. Er ist nicht gefährlich, aber man muss ihn im Auge behalten."

    Die Prinzessin wusste nicht, was sie glauben sollte. Der Schatten-Herr war so charmant und überzeugend.
    "Zu Ihrer Sicherheit", fuhr der Schatten-Herr fort, "wäre es vielleicht besser, wenn dieser verwirrte Schatten für eine Weile weggesperrt wird, bis er wieder zu sich kommt."
    Und so geschah es. Der arme gelehrte Mann wurde in einen Turm gesperrt, und niemand glaubte ihm seine Geschichte.

    Der Schatten-Herr aber heiratete die Prinzessin und wurde König. Er feierte ein großes Fest, und alle jubelten ihm zu. Und niemand ahnte, dass der neue König eigentlich nur ein Schatten war, der seinem Herrn davongelaufen war.

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