Das Bild vom Gewitter
Andersens Märchen
Stell dir vor, ganz hoch oben am Himmel, wo die Vögel kaum hinkommen, schwebte eine kleine, flauschige Wolke. Sie war sehr neugierig und schaute gerne auf die Welt hinunter.
Eines Tages blickte die Wolke hinunter und sah auf dem Balkon eines prächtigen Schlosses ein Mädchen stehen. Es war eine Prinzessin mit Haaren wie gesponnenes Gold und Augen so blau wie der Sommerhimmel. Die kleine Wolke fand sie wunderschön und verliebte sich auf der Stelle.
"Ach, wie gerne wäre ich bei ihr!", dachte die Wolke. "Vielleicht, wenn ich ein stolzer Schwan wäre?" Und schwups, verwandelte sie sich in einen weißen Schwan und glitt auf dem Schlossteich. Aber die Prinzessin sah nur kurz aus dem Fenster und bemerkte ihn kaum. Sie fütterte lieber die kleinen Enten.
"Hm," überlegte die Wolke. "Vielleicht als fröhlicher Schäferjunge, der auf seiner Flöte spielt?" Sie wurde zu einem Jungen mit einer kleinen Herde Schäfchen und spielte die lieblichsten Melodien unter einem Baum in der Nähe des Schlosses. Aber die Prinzessin war gerade mit ihren Hofdamen beschäftigt und hörte die Musik nicht.
Die kleine Wolke wurde sehr traurig. Und weil sie so traurig war, wurde sie auch ein bisschen zornig. Sie rief ihre Wolkenfreunde zusammen, und gemeinsam wurden sie immer größer und dunkler. Der Himmel verdüsterte sich. Ein starker Wind kam auf, dann fielen dicke Regentropfen. Es donnerte laut und Blitze zuckten über den Himmel. Ein richtiges Gewitter zog auf, direkt über dem Schloss!
Die Prinzessin, die gerade im Garten spielte, erschrak sehr vor dem lauten Donner und den hellen Blitzen. Schnell lief sie ins Schloss zurück und versteckte sich hinter den dicken Vorhängen.
Als die Wolke das sah, wie die Prinzessin Angst hatte, tat es ihr furchtbar leid. Sie wollte die Prinzessin doch nicht erschrecken! Sie wollte ihr doch nur nahe sein. Sofort hörte sie auf zu donnern und zu blitzen. Der Regen wurde sanfter und hörte bald ganz auf.
Die große, dunkle Gewitterwolke löste sich langsam auf. Sie wurde zu feinem Nebel und dann zu winzigen Tautropfen, die sich auf die Blumen im Schlossgarten legten, die die Prinzessin so sehr liebte. Vielleicht hat ja ein Tautropfen sogar die Wange der Prinzessin berührt, als sie später wieder vorsichtig nach draußen kam, um nach dem Rechten zu sehen. Wer weiß das schon? Die Wolke jedenfalls war verschwunden, aber sie war der Prinzessin auf ihre Weise doch ganz nah gewesen.
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