Die Großmutter
Andersens Märchen
Stellt euch eine ganz liebe alte Frau vor. Sie hatte viele Falten im Gesicht, wie kleine Wege, die von einem langen, langen Leben erzählen. Aber ihre Augen, oh, die funkelten noch immer wie zwei Sterne in einer klaren Nacht! Diese Frau war eine Großmutter, und sie saß oft in ihrem gemütlichen Sessel am Fenster und schaute hinaus.
Heute fühlte sie sich ein bisschen müde, aber auf eine sanfte, friedliche Weise. Sie wusste, dass bald eine besondere Reise für sie beginnen würde. Aber sie hatte keine Angst, nein, gar nicht.
Während sie so dasaß, mit geschlossenen Augen, war es, als ob ein bunter Film in ihrem Kopf anfing. Zuerst sah sie sich als kleines Mädchen, mit lustigen Zöpfen, die beim Laufen auf und ab hüpften. Sie lachte und spielte im Sonnenschein und pflückte Blumen auf einer grünen Wiese.
Dann wurde das Bild ein wenig älter. Sie sah sich als junge Frau, Arm in Arm mit einem freundlichen jungen Mann. Das war ihr lieber Mann, der schon vor langer Zeit zu den Sternen gereist war. Sie tanzten zusammen unter einem blühenden Apfelbaum, und die Welt war voller Lachen und Musik.
Und dann kamen die Kinder! Erst klein und tapsig, dann größer und voller Fragen. Sie sah, wie sie ihnen Geschichten vorlas, wie sie ihnen half, die Schnürsenkel zu binden, und wie sie stolz war, als sie ihre eigenen Wege gingen. So viele liebe Gesichter tauchten in ihren Gedanken auf, Gesichter von Menschen, die sie sehr geliebt hatte und die nun schon im Himmel auf sie warteten.
Großmutter öffnete kurz die Augen und blickte in den dämmernden Himmel. Plötzlich zischte ein Stern über das Firmament, eine leuchtende Spur hinter sich herziehend. "Ach", dachte sie leise, "eine Seele geht zu Gott. Das hat mir meine eigene Mutter immer erzählt, wenn ein Stern fiel."
Und in diesem Moment fühlte sie, wie auch sie ganz leicht wurde, als ob sie schweben könnte. Es tat überhaupt nicht weh. Es war, als würde sie sanft in einen weichen Traum gleiten. Ihre Augen schlossen sich langsam, und ein friedliches Lächeln lag auf ihren Lippen.
Und wisst ihr was? Als sie die Augen im Traum wieder öffnete, war sie nicht mehr in ihrem Sessel. Sie stand auf einer wunderschönen, blühenden Wiese, viel schöner als jede, die sie je gesehen hatte. Die Sonne schien warm, und Vögel sangen die lieblichsten Lieder. Und dort, unter einem strahlenden Baum, sah sie sie alle wieder: ihren lieben Mann, ihre Eltern, ihre Freunde, die schon vorausgegangen waren. Sie lachten und winkten ihr zu und öffneten ihre Arme.
Die Großmutter fühlte sich plötzlich wieder jung und stark. Alle Müdigkeit war verschwunden. Sie lachte und lief ihnen entgegen. Endlich war sie wieder mit all ihren Lieben zusammen, an einem Ort, wo es keine Sorgen und keinen Abschied mehr gab. Und dort, im Land hinter den Sternen, war sie glücklich.
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