• Das Judenmädchen

    Andersens Märchen
    In einem Land, wo die Winter kalt und die Sommer warm waren, lebte ein kleines Mädchen. Ihr Name war Sarah, und sie hatte Augen so klug wie funkelnde Sterne. Sarah war ein jüdisches Mädchen und lebte mit ihrer Familie in einem kleinen, bescheidenen Haus. Sie waren nicht reich an Gold, aber reich an Liebe und Geschichten.

    Eines Tages aber änderte sich Sarahs Leben. Eine sehr wohlhabende Dame, die in einem prächtigen Haus mit vielen glänzenden Fenstern wohnte, bemerkte das kluge Mädchen. Die Dame war Christin und dachte bei sich: "Dieses Mädchen ist so aufgeweckt und liebenswert. Ich möchte ihr ein besseres Leben ermöglichen."

    So kam es, dass Sarah in das große Haus der reichen Dame zog. Dort gab es weiche Betten, köstliches Essen jeden Tag und wunderschöne Kleider, die feiner waren als alles, was Sarah je besessen hatte. Sarah war dankbar für all die Freundlichkeit, aber ein kleiner Winkel in ihrem Herzen fühlte sich manchmal ein wenig leer an. Sie vermisste die Lieder und Gebete ihrer eigenen Familie.

    Die reiche Dame und ihre Familie waren sehr gütig zu Sarah. Sie wünschten sich, dass Sarah auch Christin werden würde, so wie sie. Sie schenkten ihr ein neues, prachtvolles Buch mit goldenen Buchstaben auf dem Einband – die Bibel. Es war ein sehr schönes Buch, und Sarah wusste, dass es ein wertvolles Geschenk war.

    Aber Sarah hatte noch ein anderes Buch. Es war klein und schon etwas abgegriffen, die Seiten waren weich vom vielen Umblättern. Es war das Gebetbuch ihrer Mutter, gefüllt mit den Worten und Geschichten ihres Volkes. Sarah hielt dieses kleine Buch sehr in Ehren und las oft heimlich darin, wenn niemand zusah. Es verband sie mit ihrer Vergangenheit und ihrer Familie.

    Die Jahre vergingen, und Sarah wuchs zu einem jungen Mädchen heran. Sie lernte viel in dem großen Haus und war stets höflich und fleißig. Bald sollte sie konfirmiert werden, ein wichtiges Fest im christlichen Glauben, das ihre Aufnahme in die Gemeinde bestätigen würde. Alle im Haus freuten sich darauf.

    Doch je näher der Tag der Konfirmation rückte, desto unruhiger wurde Sarah in ihrem Inneren. Sie dachte an die Geschichten aus dem kleinen Buch ihrer Mutter und an die Melodien, die sie als Kind gesungen hatte. Sie fühlte sich hin- und hergerissen, wie ein Blatt im Wind, das nicht wusste, auf welchen Baum es gehörte.

    Kurz vor dem großen Festtag wurde Sarah krank. Sie lag in ihrem weichen Bett im prächtigen Haus, aber keine Medizin schien ihr zu helfen. Sie wurde immer blasser und schwächer. Die reiche Dame saß oft an ihrem Bett, ihre Augen voller Sorge.

    Eines Tages, als Sarah spürte, dass ihre Kräfte schwanden, bat sie mit leiser Stimme um ihr kleines, altes Gebetbuch. Die reiche Dame fand es unter Sarahs Kissen versteckt. Sarah nahm das Buch, drückte es fest an ihr Herz und ein friedliches Lächeln huschte über ihre Lippen.

    "Dieses Buch," flüsterte sie kaum hörbar, "ist ein Teil von mir."

    Bald darauf schloss Sarah für immer ihre klugen Augen. Sie hielt ihr kleines, wertvolles Buch fest umschlungen.

    Die reiche Dame war sehr traurig. Als sie das kleine, abgenutzte Buch in Sarahs Händen sah, verstand sie vielleicht ein wenig besser, wie wichtig Sarahs Herkunft und die Erinnerungen an ihre Familie für das Mädchen gewesen waren. Und obwohl Sarah nicht mehr da war, erinnerten sich die Menschen noch lange an das jüdische Mädchen mit den funkelnden Augen, das in ihrem Herzen einen Schatz bewahrt hatte.

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