Eine Träne
Andersens Märchen
Es gab da einen alten Mann, den nannten alle nur Krible-Krable. Er war furchtbar neugierig und liebte es, Dinge ganz genau anzuschauen. Eines Tages nahm er sein allerbestes Vergrößerungsglas – das war ein Glas, das alles winzig Klein aussehen ließ, als wäre es riesengroß.
Krible-Krable ging nach draußen, wo gerade ein Regenschauer vorbeigezogen war. Auf einem Blatt saß ein einzelner, glitzernder Wassertropfen. "Aha!", dachte Krible-Krable, "den schau ich mir mal genauer an!" Vorsichtig nahm er den Tropfen mit einer Pipette auf und legte ihn unter sein Vergrößerungsglas.
Was er da sah, ließ ihn staunen! In dem winzigen Tropfen wimmelte es nur so von kleinen Tierchen. Hunderte, nein, tausende! Sie hüpften und sprangen, zogen und zerrten einander. Manche hatten viele Beine, andere sahen aus wie kleine Würmchen mit lustigen Köpfen. Es war ein richtiges Durcheinander, als ob eine ganze Stadt voller winziger Monster in diesem einen Tropfen wohnte. Sie schubsten sich und kämpften um den besten Platz, ganz so, als gäbe es nicht genug Raum für alle.
"Das ist ja unglaublich!", murmelte Krible-Krable. Dann hatte er eine Idee. Er nahm ein winziges Tröpfchen roter Farbe, so klein wie ein Stecknadelkopf, und ließ es vorsichtig in den Wassertropfen fallen.
Und was passierte? Die kleinen Tierchen wurden noch wilder! Sie stürzten sich auf die rote Farbe, als wäre es das Leckerste auf der Welt. Sie bissen und kämpften noch heftiger, und der ganze Tropfen schien zu kochen vor lauter Bewegung. Einige sahen jetzt ganz rot aus, andere nur ein bisschen, und alle waren furchtbar aufgeregt.
Krible-Krable musste lachen. "Das ist ja wie bei uns Menschen in der großen Stadt!", dachte er. "Alle drängeln und schubsen, jeder will der Erste sein und das Beste haben." Er schaute noch eine Weile zu, wie die kleinen Wesen in ihrem Wassertropfen-Universum tobten.
Dann legte er das Vergrößerungsglas weg. Der Wassertropfen auf dem Blatt sah wieder ganz friedlich und klar aus. Aber Krible-Krable wusste es jetzt besser. Er wusste, dass selbst im kleinsten Ding eine ganze Welt stecken kann, voller Leben und kleiner Abenteuer, wenn man nur genau genug hinschaut. Und manchmal, dachte er schmunzelnd, ist diese kleine Welt der großen Welt der Menschen gar nicht so unähnlich.
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