Die beiden Jungfrauen
Andersens Märchen
In der Werkstatt eines Künstlers, wo es nach frischem Ton und feuchtem Gips roch, standen zwei Figuren. Sie waren beide von demselben Künstler gemacht worden, sahen aber ganz unterschiedlich aus.
Die eine Figur war groß und strahlend weiß. Sie war aus Gips gemacht und dachte, sie sei die Schönste auf der ganzen Welt. "Seht mich an!", schien sie zu rufen, obwohl sie natürlich nicht wirklich sprechen konnte. "Bin ich nicht wunderbar? Meine Form ist perfekt, meine Farbe rein!" Sie reckte sich und hoffte, dass jeder sie bewundern würde.
Die andere Figur war kleiner und viel schlichter. Sie war aus einfachem, braunem Ton geformt und stand still in einer Ecke. Sie dachte nicht viel über ihr Aussehen nach, sondern freute sich einfach, da zu sein und die Sonnenstrahlen zu spüren, die manchmal durch das Werkstattfenster fielen. Sie war bescheiden und ruhig.
Die Gipsfigur blickte oft hochnäsig zur Tonfigur hinüber. "Du bist ja so langweilig und grau", dachte sie. "Niemand wird dich je beachten. Mich aber, mich werden alle lieben!"
Eines Tages öffnete sich die Tür der Werkstatt und ein reicher Mann trat herein. Er suchte nach einer schönen Figur für sein großes Haus. Sein Blick fiel sofort auf die glänzende Gipsfigur. "Ah, die ist aber prächtig!", sagte er und ging näher.
Die Gipsfigur wurde innerlich ganz aufgeregt. "Gleich gehöre ich ihm!", dachte sie stolz. "Ich werde im schönsten Zimmer stehen!"
Aber der Künstler, der die Figuren gemacht hatte, trat neben den reichen Mann. "Schauen Sie auch hierher, mein Herr", sagte er freundlich und zeigte auf die kleine Tonfigur in der Ecke. "Diese hier ist vielleicht nicht so auffällig, aber ich habe sie mit viel Liebe und Geduld geformt. Sie hat eine stille Schönheit und ein gutes Herz, wenn Figuren denn Herzen haben könnten."
Der reiche Mann beugte sich hinunter und betrachtete die Tonfigur aufmerksam. Er sah die feinen Linien, die sanfte Form und spürte die Ruhe, die von ihr ausging. Er dachte einen Moment nach. Dann lächelte er.
"Sie haben Recht", sagte er zum Künstler. "Diese kleine Figur hat etwas ganz Besonderes. Ihre Schlichtheit ist ihre Stärke. Ich nehme sie."
Die kleine Tonfigur wurde vorsichtig eingepackt und fand einen schönen Platz im Haus des reichen Mannes. Dort wurde sie oft betrachtet und bewundert, nicht weil sie prahlte, sondern weil sie einfach war, wie sie war.
Und die stolze Gipsfigur? Sie blieb in der Werkstatt stehen. Niemand beachtete sie mehr so richtig. Mit der Zeit bekam sie vielleicht ein paar kleine Risse und wurde ein bisschen staubig. Sie hatte nur an ihre äußere Schönheit gedacht und dabei vergessen, dass es oft die leisen und bescheidenen Dinge sind, die am Ende am meisten Freude bereiten.
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