Die Schnecke und der Rosenstock
Andersens Märchen
In einem Garten, wo die Blumen in den buntesten Farben leuchteten, stand ein prächtiger Rosenstrauch. Seine Rosen dufteten süß und sahen wunderschön aus, besonders wenn die Morgensonne auf ihre zarten Blätter schien. Nicht weit davon, unter einem großen, feuchten Klettenblatt, wohnte eine Schnecke.
Die Schnecke hieß, nun ja, einfach Schnecke. Sie war nicht besonders schnell, aber sie dachte sehr viel über sich selbst nach. Eines Tages kroch sie langsam hervor und sah den Rosenstrauch in voller Blüte. "Pah!", zischte sie leise, denn Schnecken können nicht laut zischen. "Was für eine Angeberei mit all diesen Blüten! Wozu soll das gut sein? Du gibst deine Blüten und deinen Duft einfach so her. Was hast du davon?"
Der Rosenstrauch raschelte sanft mit seinen Blättern. "Ich blühe, weil es meine Natur ist", sagte er mit einer Stimme, die wie ein leiser Wind klang. "Ich schenke Freude. Die Bienen summen um mich herum, die Schmetterlinge tanzen auf meinen Blüten, und die Menschen lächeln, wenn sie mich sehen."
"Unsinn!", brummte die Schnecke und zog ihre Fühler ein wenig ein. "Ich habe mein eigenes Haus auf dem Rücken. Ich kann mich hineinziehen, wann immer ich will. Ich brauche niemanden. Ich bin mir selbst genug. Ich denke über die wichtigen Dinge der Welt nach, hier in meinem Haus. Du hingegen stehst nur da und blühst."
Der Rosenstrauch antwortete nicht. Er entfaltete einfach eine neue Knospe, die sich in eine wunderschöne, duftende Rose verwandelte.
So verging die Zeit. Der Sommer kam und ging. Der Rosenstrauch blühte immer wieder, schenkte Rosen und Duft. Die Schnecke blieb in ihrer Ecke, zog sich oft in ihr Haus zurück und dachte, sie sei das Klügste auf der Welt. Sie fand, der Rosenstrauch sei recht einfältig, immer nur zu blühen und sich zu verschenken. "Du verschwendest dich nur", sagte sie manchmal. "Bald sind deine Blüten welk und fallen ab. Aber ich, ich bleibe immer gleich in meinem soliden Haus."
Viele Jahre später. Der Rosenstrauch war vielleicht nicht mehr derselbe, aber an seiner Stelle wuchs ein neuer, genauso prächtig. Er blühte und duftete und streckte seine Zweige der Sonne entgegen. Die Kinder, die im Garten spielten, pflückten manchmal eine Rose für ihre Mutter.
Und die Schnecke? Sie war immer noch eine Schnecke. Vielleicht ein bisschen älter, ihr Haus vielleicht ein wenig verwitterter, aber sie kroch immer noch langsam unter ihrem Klettenblatt hervor. Sie sah den Rosenstrauch und dachte immer noch dasselbe: "Was für eine Verschwendung. Ich aber, ich habe die Welt in mir."
Der Rosenstrauch aber schenkte weiter seine Schönheit und seinen Duft an alle, die vorbeikamen. Er wusste nicht, dass er etwas Besonderes tat, er tat es einfach. Und die Schnecke, sie saß da und dachte nur an sich und ihr kleines, feuchtes Reich unter dem Klettenblatt.
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