• Der Flaschenhals

    Andersens Märchen
    Hört mal her, ich bin ein Flaschenhals, und ich habe eine ganz besondere Geschichte zu erzählen.

    Am Anfang war ich Teil einer großen, glänzenden Flasche. Wir standen zusammen mit vielen anderen Flaschen in einem kühlen, dunklen Keller. In meinem Bauch war köstlicher, roter Wein. Oh, wie stolz ich war! Ich wartete auf einen ganz besonderen Anlass.

    Eines Tages wurden wir herausgeholt. Es war für eine Feier! Ein junger Mann und eine junge Frau stießen mit dem Wein aus meiner Flasche an. Sie lachten und ihre Augen strahlten. "Auf unsere Liebe!", riefen sie. Das war ein wunderschöner Moment, und ich fühlte mich sehr wichtig.

    Nach der Feier war meine Flasche leer und – schwups! – landete ich im Abfall. Aber ein kleiner Junge fand mich und dachte, ich sei ein interessantes Spielzeug. Er nahm mich mit nach Hause und warf mich dann achtlos auf den Dachboden.

    Dort lag ich eine ganze Weile. Durch ein staubiges Dachfenster konnte ich die Welt draußen sehen: die Dächer der Stadt, die Vögel, die am Himmel flogen, und die Wolken, die vorbeizogen. Es war ein bisschen einsam, aber auch friedlich.

    Unter dem Dachboden wohnte eine alte, freundliche Frau. Sie war oft allein und sang leise vor sich hin. Eines Tages kam sie auf den Dachboden, um etwas zu suchen, und da entdeckte sie mich. "Oh, was für ein hübscher Flaschenhals!", sagte sie mit ihrer sanften Stimme.

    Sie nahm mich mit nach unten, putzte mich blitzblank und stellte eine einzelne, duftende Blume in mich hinein. Ich durfte auf ihrem Fenstersims stehen, direkt im Sonnenlicht. Die Blume trank das Wasser aus mir, und ich fühlte mich wieder nützlich und sehr glücklich. Die alte Frau lächelte mich oft an.

    Aber die Zeit verging, und die alte Frau wurde sehr alt und krank. Eines Tages schlief sie ein und wachte nicht mehr auf. Ich war sehr traurig. Bald darauf wurde ich mit anderem Kram weggeräumt und landete in einer Kiste.

    Später fand mich jemand und verkaufte mich an eine kleine Gaststätte. Dort wurde ich manchmal mit Wasser gefüllt, manchmal auch mit etwas anderem, das nicht so fein roch wie der edle Wein von früher. Es war ein lauter Ort, aber immerhin war ich wieder unter Leuten.

    Ein Seemann sah mich eines Tages. "Genau das Richtige für eine Nachricht!", rief er fröhlich. Er schrieb etwas auf ein kleines Stück Papier, rollte es fest zusammen, steckte es in mich hinein und verschloss mich gut mit einem Korken.

    Er nahm mich mit auf sein großes Schiff. Wir segelten über das weite, blaue Meer. Doch eines Tages kam ein schrecklicher Sturm! Das Schiff krachte und ächzte, und schließlich zerbrach es. Ich wurde mit der Nachricht in meinem Bauch ins tosende Meer geschleudert.

    Viele Tage und Nächte trieb ich auf den Wellen. Ich tanzte mit den Fischen und sah die Sterne über mir. Endlich spülte mich das Meer an einen fernen Strand. Ein Kind, das am Strand spielte, fand mich. "Papa, Mama, schaut mal, eine Flaschenpost!", rief es aufgeregt.

    Seine Eltern öffneten mich vorsichtig und zogen die Nachricht heraus. Was darin stand? Das ist eine andere Geschichte. Aber ich, der kleine Flaschenhals, hatte so viel erlebt! Vom edlen Wein im Keller bis zur wichtigen Nachricht im Meer. Jedes Leben, auch das eines einfachen Flaschenhalses, kann voller Abenteuer und Bedeutung sein. Und wer weiß, vielleicht erlebe ich ja noch mehr!

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