• Die alte Straßenlaterne

    Andersens Märchen
    Hoch oben an einer Straßenecke hing eine sehr, sehr alte Straßenlaterne. Sie hatte schon so viele Jahre dort gehangen, dass sie gar nicht mehr zählen konnte, wie oft der Mond über sie hinweggezogen war oder wie viele Schneeflocken auf ihrem Hut getanzt hatten. Jeden Abend, wenn es dunkel wurde, leuchtete ihr Licht hell und freundlich auf die Straße hinab und sah den Menschen zu.

    Eines Tages hörte die alte Laterne, wie zwei Männer unter ihr sprachen. "Diese alte Lampe muss weg", sagte der eine. "Wir bekommen bald neue, viel hellere!" Die alte Laterne wurde ein bisschen traurig. Was sollte nun aus ihr werden? Vielleicht würde man sie einschmelzen und etwas ganz anderes aus ihr machen? Sie hatte doch so viele Geschichten gesehen!

    Sie dachte an all die Dinge, die sie von ihrem Platz aus beobachtet hatte: Kinder, die lachend Fangen spielten, bis ihre Mütter sie zum Abendessen riefen. Verliebte Pärchen, die heimlich Händchen hielten und sich unter ihrem Schein Küsse gaben. Sie erinnerte sich an den alten Nachtwächter, der jede Nacht seine Runde machte und mit seiner eigenen kleinen Laterne unter ihr vorbeiging. Er rief dann immer: "Hört, ihr Leut', und lasst euch sagen, die Glock hat zehn geschlagen!" Und natürlich die Sterne am Himmel, die ihr jede Nacht Gesellschaft leisteten und ihr von fernen Welten zuzwinkerten.

    In ihrer letzten Nacht als Straßenlaterne, als ihr Licht schon ein wenig schwächer brannte, flüsterte der Wind ihr zu: "Du warst eine gute Laterne, hast treu geleuchtet. Wir haben ein Geschenk für dich." Und die Sterne funkelten besonders hell. "Du sollst dich an alles erinnern können, was du gesehen hast", sagten sie leise. "Jede kleine Freude, jedes Lachen, jede Geschichte soll in deinem Gedächtnis bleiben." Die alte Laterne fühlte sich ganz warm ums Herz, obwohl sie doch aus kaltem Metall war.

    Am nächsten Morgen kamen die Männer. Sie nahmen die alte Laterne vorsichtig ab. Sie wurde nicht eingeschmolzen! Stattdessen trug man sie in ein Haus und stellte sie in einen Keller. Dort war es dunkel und ein bisschen staubig. "Oh je", dachte die Laterne, "hier ist es aber einsam."

    Aber wer wohnte in dem Haus? Es war der alte Nachtwächter und seine Frau! Als der Nachtwächter die alte Laterne im Keller sah, lächelte er. "Ach, meine alte Freundin!", sagte er. "Du hast mir so viele Jahre lang den Weg geleuchtet, als ich noch Nachtwächter war. Dich werfen wir nicht weg!"

    Seine Frau holte einen Lappen und putzte die Laterne blitzblank, bis sie wieder glänzte. Und wisst ihr was? An besonderen Abenden, wenn sie Gäste hatten oder es einfach nur gemütlich sein sollte, zündeten sie die alte Laterne an. Sie stand dann auf einem kleinen Tisch im Wohnzimmer und verbreitete ein warmes, sanftes Licht. Die Kinder des Nachtwächters, die nun schon erwachsen waren und eigene Kinder hatten, saßen oft dabei und lauschten den Geschichten, die der alte Nachtwächter erzählte – Geschichten, die die Laterne auch alle kannte.

    Die alte Straßenlaterne war sehr glücklich. Sie war zwar nicht mehr draußen an der Straßenecke und sah nicht mehr so viele neue Dinge, aber sie hatte ein schönes Zuhause gefunden. Und dank des Geschenks vom Wind und den Sternen konnte sie sich an all die schönen Zeiten erinnern und ihre Geschichten im warmen Schein ihres Lichts erzählen – wenn auch nur ganz leise, für sich selbst und für den alten Nachtwächter und seine Familie, die sie so gut verstanden.

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