Die Samtstückchen
Andersens Märchen
Ein Soldat marschierte die Landstraße entlang: links, zwo, drei, vier! Links, zwo, drei, vier! Er hatte seinen Ranzen auf dem Rücken und einen Säbel an der Seite, denn er kam gerade aus dem Krieg und war auf dem Weg nach Hause.
Da begegnete ihm eine alte Hexe. Sie war nicht besonders hübsch anzusehen, ihre Unterlippe hing ihr fast bis auf die Brust. "Guten Abend, Soldat!", krächzte sie. "Du hast einen feinen Säbel und einen großen Ranzen! Du sollst so viel Geld bekommen, wie du tragen kannst!"
"Das wäre nicht schlecht!", sagte der Soldat.
"Siehst du den großen Baum dort?", fragte die Hexe und zeigte auf einen Baum neben der Straße. "Er ist innen ganz hohl. Klettere hinauf, dann siehst du ein Loch, durch das du dich hinablassen kannst. Ich binde dir einen Strick um den Leib, damit ich dich wieder hochziehen kann."
"Und was soll ich da unten im Baum?", wollte der Soldat wissen.
"Geld holen!", sagte die Hexe. "Wenn du unten bist, siehst du einen großen Gang, der ist hell erleuchtet von vielen Lampen. Dort sind drei Türen. In der ersten Kammer sitzt ein Hund auf einer Kiste. Seine Augen sind so groß wie Teetassen! Aber hab keine Angst. Setz ihn auf meine blaue Schürze, die ich dir mitgebe, dann tut er dir nichts. Öffne die Kiste und nimm so viele Kupfermünzen, wie du willst."
"Das klingt gut", meinte der Soldat.
"In der zweiten Kammer", fuhr die Hexe fort, "sitzt ein Hund mit Augen so groß wie Mühlräder! Setz auch ihn auf die Schürze und nimm dir Silbermünzen. Aber in der dritten Kammer, da sitzt ein Hund, dessen Augen so groß sind wie runde Türme! Das ist ein furchterregender Hund, aber setz auch ihn auf die Schürze, dann kannst du Goldmünzen nehmen, so viele du tragen kannst."
"Das gefällt mir!", sagte der Soldat. "Aber was bekommst du dafür, alte Hexe?"
"Kein Geld", sagte die Hexe. "Bring mir nur ein altes Feuerzeug mit, das meine Großmutter dort unten vergessen hat, als sie das letzte Mal da war."
"Na gut", sagte der Soldat. Die Hexe band ihm den Strick um den Leib, gab ihm ihre blaue Schürze, und er kletterte in den Baum und ließ sich in das Loch hinab.
Alles war so, wie die Hexe gesagt hatte. Er öffnete die erste Tür. Huch! Da saß der Hund mit Augen so groß wie Teetassen und starrte ihn an. "Du bist ja ein netter Kerl", sagte der Soldat, setzte ihn auf die Schürze der Hexe und füllte seine Taschen mit Kupfermünzen. Dann ging er zur zweiten Tür. Wau! Der Hund mit Augen so groß wie Mühlräder glotzte ihn an. Der Soldat setzte ihn schnell auf die Schürze und nahm sich viele Silbermünzen. Dann kam die dritte Tür. Donnerwetter! Der Hund mit Augen so groß wie runde Türme funkelte ihn an. Der Soldat grüßte höflich, setzte ihn auf die Schürze und stopfte seine Taschen, seinen Ranzen und sogar seine Mütze voll Gold. Er warf das Kupfer und Silber weg, um mehr Gold tragen zu können.
Dann fand er das alte Feuerzeug und steckte es ein. "Zieh mich hoch, alte Hexe!", rief er.
"Hast du das Feuerzeug?", fragte sie.
"Ja, hab ich", sagte der Soldat. Als er oben war, fragte er: "Was willst du denn mit dem Feuerzeug?"
"Das geht dich nichts an!", zischte die Hexe. "Gib es mir!"
Der Soldat aber wollte es wissen. Und weil die Hexe so garstig war und es ihm nicht verraten wollte, wurde er ein bisschen ungeduldig. Er packte das Feuerzeug fester ein, und schwupps, die Hexe war plötzlich nicht mehr da, um ihn zu ärgern. Er aber ging mit seinen vollen Taschen in die nächste Stadt.
Dort mietete er sich das schönste Zimmer im besten Gasthof, bestellte das leckerste Essen und kaufte sich die feinsten Kleider. Er hatte ja jetzt genug Geld. Er fand viele Freunde, die sagten, er sei ein prima Kerl, solange er Geld ausgab.
Aber das Geld wurde immer weniger, und eines Tages hatte er nur noch ein paar Münzen. Er musste aus dem schönen Zimmer ausziehen und in eine kleine, kalte Dachkammer umziehen. Keiner seiner Freunde besuchte ihn mehr.
Eines dunklen Abends hatte er nicht einmal mehr Geld für ein Licht. Da fiel ihm das Feuerzeug ein. "Ach", dachte er, "damit kann ich mir vielleicht ein kleines Licht machen." Er nahm das Feuerzeug und schlug einmal daran. Funken sprühten, und platsch! Da stand der Hund mit Augen so groß wie Teetassen vor ihm.
"Was befiehlt mein Herr?", fragte der Hund.
"Was?", sagte der Soldat. "Das ist ja ein tolles Feuerzeug! Schaff mir etwas Geld herbei!" Wuff! Der Hund war weg und im nächsten Augenblick wieder da, mit einem großen Beutel voller Kupfermünzen.
Nun wusste der Soldat, was für ein wunderbares Feuerzeug er hatte. Schlug er einmal, kam der Hund mit den Teetassenaugen und brachte Kupfer. Schlug er zweimal, kam der Hund mit den Mühlradaugen und brachte Silber. Schlug er dreimal, kam der Hund mit den Turmaugen und brachte Gold.
Der Soldat war wieder reich, zog zurück in die schönen Zimmer und hatte wieder viele "Freunde".
Er dachte oft an die wunderschöne Prinzessin, von der alle in der Stadt erzählten. Sie wohnte in einem großen Kupferschloss und durfte niemanden sehen, denn es war vorausgesagt worden, dass sie einen ganz einfachen Soldaten heiraten würde. "Ich möchte sie so gerne sehen!", dachte der Soldat.
Eines Nachts rief er den Hund mit den Teetassenaugen. "Ich weiß, du bist schnell wie der Wind", sagte er. "Bring mir die Prinzessin für einen Augenblick."
Und husch, bevor der Soldat bis drei zählen konnte, war der Hund zurück. Auf seinem Rücken trug er die schlafende Prinzessin. Sie war so schön! Der Soldat konnte nicht anders, er musste sie küssen – ganz vorsichtig, weil sie ja schlief. Dann trug der Hund sie wieder zurück ins Schloss.
Am nächsten Morgen erzählte die Prinzessin ihren Eltern, dem König und der Königin, von einem seltsamen Traum: Sie sei auf einem Hund geritten und ein Soldat habe sie geküsst.
Die Königin war schlau. In der nächsten Nacht ließ sie eine alte Hofdame am Bett der Prinzessin Wache halten. Wieder kam der Hund und holte die Prinzessin. Die Hofdame zog schnelle Schuhe an und lief hinterher. Als sie sah, in welches Haus der Hund lief, machte sie ein großes Kreuz mit Kreide an die Tür.
Aber der Hund war auch schlau. Als er die Prinzessin zurückbrachte, sah er das Kreuz, holte sich selbst ein Stück Kreide und machte an alle Türen in der Straße ein Kreuz. Am nächsten Tag wusste niemand, welche Tür die richtige war.
Die Königin dachte sich etwas Neues aus. Sie nähte einen kleinen Beutel aus Seide, füllte ihn mit feinem Buchweizenmehl und band ihn der Prinzessin auf den Rücken. Dann schnitt sie ein kleines Loch hinein. Wenn die Prinzessin nun getragen würde, würde das Mehl eine Spur hinterlassen.
Und so geschah es. Der Hund merkte nichts von der Mehlspur, die zum Haus des Soldaten führte. Am Morgen wurde der Soldat entdeckt, gefangen genommen und ins Gefängnis geworfen. Man sagte ihm, er würde am nächsten Tag gehängt werden.
Das war keine schöne Nachricht. Im Gefängnis war es dunkel, und sein Feuerzeug hatte er im Gasthof vergessen. Als er am nächsten Morgen zum Galgen geführt wurde, sah er einen Schusterjungen vorbeilaufen. "He, du!", rief er. "Lauf schnell zu meinem Gasthof und hol mein Feuerzeug. Du bekommst vier Schilling!" Der Junge rannte los und brachte das Feuerzeug.
Viele Menschen waren gekommen, um zuzusehen. Der König und die Königin saßen auf prächtigen Thronen. Als der Soldat schon die Leiter zum Galgen hinaufsteigen sollte, bat er: "Dürfte ich mir als letzten Wunsch noch eine Pfeife stopfen?"
Der König nickte gnädig. Der Soldat nahm sein Feuerzeug und schlug: eins, zwei, drei! Da standen alle drei Hunde da: der mit den Teetassenaugen, der mit den Mühlradaugen und der mit den Turmaugen.
"Helft mir, damit ich nicht gehängt werde!", rief der Soldat.
Da stürzten sich die Hunde auf die Richter und die Ratsherren, packten den einen bei den Beinen, den anderen bei der Nase und warfen sie hoch in die Luft, dass sie beim Herunterfallen in viele Stücke zerbrachen – naja, vielleicht nicht ganz so schlimm, aber sie erschraken sich furchtbar und rannten davon. Den König und die Königin wirbelten sie auch ein bisschen herum, aber ganz vorsichtig.
Die Leute im Volk aber riefen: "Lieber Soldat, du sollst unser König sein und die schöne Prinzessin heiraten!"
Der Soldat wurde in die königliche Kutsche gesetzt. Die Prinzessin kam aus dem Kupferschloss und war gar nicht böse, dass sie nun einen Soldaten heiraten sollte, besonders diesen hier.
Die Hochzeit dauerte eine ganze Woche. Die drei Hunde saßen mit am Tisch und machten Augen – so groß wie Teetassen, Mühlräder und runde Türme! Und alle lebten noch lange glücklich und zufrieden.
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