Das Schneiderlein im Himmel
Grimms Märchen
Wisst ihr, was mit einem kleinen, braven Schneiderlein passierte, als sein Leben auf der Erde zu Ende war? Er klopfte ganz aufgeregt an die Himmelstür.
Der heilige Petrus machte auf. "Wer bist du denn?", fragte Petrus mit seiner tiefen Stimme.
"Ich bin ein armer Schneider", piepste das Schneiderlein, "und ich war immer brav. Darf ich bitte rein?"
Petrus lächelte. "Na klar, komm herein! Hier im Himmel ist es wunderschön."
Das Schneiderlein staunte. Überall sangen Engel, es gab leckeren Kuchen und man konnte auf Wolken hüpfen. Aber nach einer Weile wurde ihm ein bisschen langweilig. Er war es ja gewohnt, immer etwas zu tun. Er dachte: "Ich würde zu gerne mal sehen, was der liebe Gott so macht."
Eines Tages war der liebe Gott gerade nicht auf seinem goldenen Thron. "Das ist meine Chance!", dachte das Schneiderlein, huschte hin und setzte sich drauf. Von dort oben konnte er die ganze Welt sehen!
Und was sah er? Unten auf der Erde, auf einem Markt, stahl eine alte Frau heimlich zwei Äpfel.
"So eine Frechheit!", rief das Schneiderlein. Er war richtig wütend. Er schnappte sich den goldenen Fußschemel vom lieben Gott und – schwupps – warf er ihn auf die diebische Frau hinunter.
In dem Moment kam der liebe Gott zurück. "Was ist denn hier los?", fragte er und sah den leeren Platz, wo sein Fußschemel gestanden hatte. "Und wer sitzt auf meinem Thron?"
Das Schneiderlein sprang erschrocken auf. "Oh, äh, lieber Gott", stotterte er, "ich habe nur gesehen, wie diese Frau da unten Äpfel geklaut hat. Da musste ich doch was tun!"
Der liebe Gott runzelte die Stirn. "Und dafür wirfst du meinen goldenen Fußschemel? Hättest du deinen eigenen alten Holzschemel auch geworfen?"
"Nein", sagte das Schneiderlein kleinlaut, "meiner ist ja nicht so wertvoll."
Da sagte der liebe Gott: "Siehst du, ich richte mit Geduld und Liebe, nicht mit Zorn. Wenn ich so schnell wütend würde wie du, gäbe es bald keine Menschen mehr auf der Erde. Du verstehst das noch nicht." Und weil das Schneiderlein so unüberlegt gehandelt hatte und sich in Dinge einmischte, die es nicht verstand, musste es den Himmel wieder verlassen.
Und schwups, war das Schneiderlein wieder draußen vor der Himmelstür. Tja, so schnell kann's gehen, wenn man meint, alles besser zu wissen!
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