• Der starke Hans

    Grimms Märchen
    Stellt euch ein kleines Häuschen vor, ganz nah an einem riesigen, dunklen Wald. Dort lebte eine Mutter mit ihrem kleinen Sohn Hans. Eines Tages, als Hans im Wald spielte, kamen Räuber aus dem Dickicht und – schwupps – hatten sie seine Mutter mitgenommen! Hans war noch zu klein, um etwas zu tun, und er weinte bitterlich.

    Aber Hans war nicht nur traurig, er wurde auch entschlossen. "Ich werde so stark", dachte er sich, "dass ich meine Mutter zurückholen kann!" Und so begann Hans zu essen und zu trainieren. Er aß jeden Tag einen riesigen Topf voll Brei und stemmte schwere Steine. Mit jedem Tag wurde er ein kleines bisschen stärker. Nach ein paar Jahren war Hans so stark, dass er einen Baumstamm, so dick wie ein Fass, wie einen leichten Spazierstock schwingen konnte. Diesen Baumstamm nannte er seinen Knüppel.

    Mit seinem Knüppel über der Schulter machte sich Hans auf den Weg, die Räuberburg zu suchen. Unterwegs traf er einen Mann, der saß auf einem Stein und drückte ihn so fest zusammen, dass Wasser heraustropfte. "Hallo!", sagte Hans. "Du bist aber stark!" Der Mann lachte und sagte: "Ich heiße Felsquetscher. Und du?" "Ich bin der starke Hans", antwortete Hans. Sie beschlossen, zusammen weiterzugehen.

    Ein Stück weiter sahen sie einen anderen Mann, der einen dicken Eichenbaum mit bloßen Händen umriss, als wäre es ein Grashalm. "Donnerwetter!", rief Hans. "Der ist ja noch stärker!" Der Mann stellte sich als Baumreißer vor. Nun waren sie zu dritt und fühlten sich unbesiegbar.

    Endlich erreichten sie eine finstere Burg, aus deren Schornstein Rauch aufstieg. "Das muss die Räuberhöhle sein!", rief Hans. Sie schlichen sich hinein. Die Burg war riesig, aber menschenleer. In der Küche fanden sie einen großen Topf auf dem Feuer. "Ich bleibe hier und koche uns etwas", sagte Hans. "Ihr könnt inzwischen die Burg erkunden."

    Kaum waren Felsquetscher und Baumreißer weg, da huschte ein winziges, graues Männlein in die Küche. "Gib mir was zu essen!", quäkte es. Hans, der gerade eine dicke Suppe rührte, sagte: "Warte, bis es fertig ist, dann bekommen alle etwas." Das Männlein aber wurde zornig, holte ein kleines Stöckchen hervor und schlug Hans damit, bis dieser ganz benommen war und das Männlein mit einem Stück Fleisch verschwand.

    Als die anderen zurückkamen, erzählte Hans nichts von dem Männlein, weil er sich schämte. Am nächsten Tag blieb Felsquetscher in der Küche. Wieder kam das Männlein, forderte Essen, und als Felsquetscher ablehnte, wurde auch er vom Männlein verprügelt. Am dritten Tag erging es Baumreißer nicht anders.

    Nun war wieder Hans an der Reihe. "Diesmal nicht!", dachte er und versteckte seinen dicken Knüppel griffbereit. Als das Männlein wieder auftauchte und frech Essen verlangte, sagte Hans: "Diesmal bekommst du nichts als Schläge!" Und bevor das Männlein reagieren konnte, schwang Hans seinen Knüppel und traf es ordentlich. Das Männlein schrie laut auf und flehte: "Hör auf, starker Hans! Ich verrate dir, wo die Gefangenen sind, wenn du mich verschonst!"

    Das Männlein führte Hans zu einer geheimen Kellertür. Hans stieß sie auf und da saß seine liebe Mutter! Und nicht nur sie, auch viele andere Gefangene waren dort, darunter eine wunderschöne Prinzessin. Die Freude war riesig! Hans und seine Freunde befreiten alle.

    Die Räuber hatten in der Burg auch viele Schätze angehäuft. Die drei starken Männer fanden eine tiefe Grube, voll mit Gold und Juwelen. "Hans, du bist der Stärkste", sagten Felsquetscher und Baumreißer, "steig du hinab und wirf uns die Schätze herauf." Hans tat, wie ihm geheißen. Doch als er fast alles Gold heraufgeworfen hatte und selbst heraufklettern wollte, schnitten die beiden falschen Freunde das Seil durch und ließen Hans in der Grube zurück. "Haha, jetzt gehört alles uns!", riefen sie und liefen davon.

    Hans war erst verzweifelt, doch dann bemerkte er einen kleinen, glitzernden Ring an seinem Finger, den er wohl beim Schätzesammeln aufgelesen hatte. Er drehte daran und wünschte sich aus der Grube heraus. Und plopp! Stand er wieder oben.

    Er verkleidete sich als armer Wanderer und ging zum Schloss des Königs, dem Vater der befreiten Prinzessin. Dort hörte er, wie Felsquetscher und Baumreißer gerade dem König erzählten, sie allein hätten die Prinzessin und alle anderen gerettet. Da trat Hans vor, warf seine Verkleidung ab und rief: "Das ist eine Lüge! Ich bin der starke Hans, und diese beiden sind Verräter!" Die Prinzessin erkannte Hans sofort und bestätigte seine Geschichte.

    Der König war gerecht. Felsquetscher und Baumreißer wurden für ihren Verrat bestraft. Der starke Hans aber heiratete die Prinzessin, und seine Mutter zog mit ihnen ins Schloss. Dort lebten sie noch lange und glücklich, und Hans blieb immer so stark wie ein Bär.

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