Der Vogel Greif
Grimms Märchen
In einem Land, weit, weit weg, da lebte ein König. Seine Tochter, die wunderschöne Prinzessin, war plötzlich sehr krank geworden. Kein Arzt wusste Rat. Da hörte der König von einem Wundermittel: eine Feder vom Vogel Greif! Nur diese Feder konnte die Prinzessin heilen.
Viele tapfere Ritter und kluge Männer machten sich auf den Weg, um die Feder zu holen, aber keiner kam zurück. Der König hatte auch drei Söhne. Die beiden älteren lachten nur über die Idee, zum Greif zu gehen. "Viel zu gefährlich!", sagten sie. Aber der jüngste Sohn, ein mutiger und freundlicher Junge, sagte: "Vater, ich will es versuchen! Ich will die Feder für meine Schwester holen."
Der König war traurig, aber er ließ ihn ziehen. Der junge Prinz wanderte viele Tage. Bald traf er einen Mann, der traurig neben einem leeren Weinkeller saß. "Ach," seufzte der Mann, "mein ganzer guter Wein ist verschwunden, und ich weiß nicht, warum!" Der Prinz versprach: "Wenn ich den Greif treffe, frage ich ihn für dich."
Er ging weiter und kam zu einem Garten, in dem ein Apfelbaum stand, der keine einzige Frucht trug. Der Gärtner klagte: "Jedes Jahr hatte ich die schönsten Äpfel, aber jetzt wächst nichts mehr!" Wieder versprach der Prinz: "Ich frage den Greif, er weiß sicher Rat."
Schließlich erreichte er einen breiten Fluss. Ein Fährmann stand dort mit seinem Boot, sah aber sehr müde aus. "Ich muss die Leute Tag und Nacht über den Fluss bringen," stöhnte er, "und ich komme niemals von dieser Stelle weg! Weißt du, wie ich frei werden kann?" Der Prinz sagte: "Ich bin auf dem Weg zum Greif. Ich werde ihn auch für dich fragen."
Endlich, nach langer Reise, kam der Prinz zum Schloss des Greifen. Es sah ein bisschen unheimlich aus. Vorsichtig klopfte er an. Die Frau des Greifen öffnete die Tür. Sie war überraschend freundlich. "Was suchst du hier, mein Junge?", fragte sie. Der Prinz erzählte ihr von der kranken Prinzessin und dass er eine Feder brauchte.
Die Greifin hatte Mitleid. "Mein Mann ist ein wilder Vogel," sagte sie, "aber ich helfe dir. Versteck dich schnell unter dem großen Tisch! Wenn er schläft, nehme ich ihm eine Feder."
Bald darauf kam der Greif mit lautem Flügelschlag nach Hause geflogen. "Ich rieche, ich rieche Menschenfleisch!", brummte er mit tiefer Stimme. "Ach was," sagte seine Frau, "du bildest dir was ein. Setz dich und iss dein Abendessen." Der Greif aß und trank und wurde bald müde. Er legte seinen Kopf auf den Schoß seiner Frau und schlief ein.
Ganz vorsichtig zupfte die Greifin ihrem Mann eine Feder aus dem Flügel. Dann noch eine und noch eine – sicher ist sicher! Dann flüsterte sie: "Lieber Greif, ich habe geträumt. Ein Weinkeller war leer, was war da los?" Der Greif murmelte im Schlaf: "Eine Kröte sitzt unter dem größten Fass und trinkt den Wein."
"Und ein Apfelbaum trug keine Früchte mehr?"
"Eine Maus nagt an seiner Wurzel," brummte der Greif.
"Und ein Fährmann wollte frei sein?"
"Er muss dem Nächsten, der mitfahren will, einfach das Ruder in die Hand drücken, dann ist er frei," schnarchte der Greif und schlief tief weiter.
Am nächsten Morgen, als der Greif ausgeflogen war, gab die Greifin dem Prinzen die Federn und erzählte ihm die Antworten. Der Prinz bedankte sich tausendmal und machte sich schnell auf den Heimweg.
Zuerst kam er zum Fährmann. "Du musst dem nächsten Fahrgast dein Ruder in die Hand geben, dann bist du frei!", rief der Prinz. Der Fährmann tat es sofort, als der nächste Reisende kam, und war überglücklich. Zum Dank gab er dem Prinzen einen Beutel voll Gold.
Dann kam er zum Gärtner mit dem Apfelbaum. "Eine Maus nagt an der Wurzel deines Baumes!" Der Gärtner grub ein wenig, fand die Maus, und der Baum sah gleich viel besser aus. Auch er gab dem Prinzen Gold.
Zuletzt erreichte er den Mann mit dem Weinkeller. "Unter deinem größten Fass sitzt eine Kröte und trinkt den Wein!" Der Mann fand die Kröte, jagte sie davon, und siehe da, der Wein floss wieder. Glücklich schenkte er dem Prinzen noch mehr Gold.
Reich beladen und mit den wichtigen Federn kam der Prinz endlich wieder im Schloss seines Vaters an. Er ging sofort zur kranken Prinzessin und strich ihr mit einer Greifenfeder über die Stirn. Im selben Augenblick öffnete sie die Augen und lächelte. Sie war gesund!
Der König und das ganze Königreich feierten ein großes Fest. Der jüngste Prinz wurde als Held gefeiert, und als er alt genug war, heiratete er die Prinzessin, die er so mutig gerettet hatte. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.
1907 Aufrufe