Die Königskinder
Grimms Märchen
Wisst ihr, was einmal einem jungen Prinzen passierte? Es ist eine spannende Geschichte! Dieser Prinz lebte in einem prächtigen Schloss mit seinem Vater, dem König. Als der Prinz noch ganz klein war, sagten weise Leute voraus: "Achtung! Wenn der Prinz sechzehn Jahre alt wird, könnte ein Hirsch ihn in große Gefahr bringen."
Als der Prinz dann wirklich sechzehn wurde, dachte er nicht mehr viel an die alte Vorhersage und ging mit seinen Jägern in den Wald. Plötzlich sprang ein wunderschöner, großer Hirsch mit einem prächtigen Geweih vor ihnen auf! "Den muss ich fangen!", rief der Prinz und galoppierte ihm hinterher, immer tiefer und tiefer in den Wald hinein, bis seine Jäger ihn nicht mehr sehen konnten.
Der Hirsch lockte ihn zu einer seltsamen Felswand, die wie eine Tür aussah. Schwuppdiwupp! Der Hirsch sprang hindurch und war verschwunden. Und als der Prinz näher kam, verwandelte sich der Felsen tatsächlich in eine Tür, und ein alter Mann mit langem Bart, der ein König zu sein schien, trat heraus. "Haha!", lachte der König. "Jetzt hab ich dich! Du kommst hier nicht mehr raus, es sei denn, du tust, was ich sage."
Der Prinz war gefangen. Der alte König hatte drei Töchter. Die jüngste war sehr freundlich und hatte Mitleid mit dem Prinzen. Der König sagte zum Prinzen: "Du kannst meine jüngste Tochter heiraten und wieder frei sein, aber nur, wenn du drei sehr, sehr schwierige Aufgaben löst."
Die erste Aufgabe war: Der König verstreute einen ganzen Sack voller Linsen im Moos des Waldes. "Sammle jede einzelne Linse bis morgen früh wieder ein!", befahl er. Der Prinz seufzte. Wie sollte er das schaffen? Aber die jüngste Königstochter kam heimlich zu ihm. "Keine Sorge", flüsterte sie und rief dann leise: "Ihr kleinen Ameisen, kommt geschwind, helft uns, die Linsen zu finden!" Und tatsächlich, tausende von Ameisen krabbelten herbei und sammelten die Linsen, eine nach der anderen, bis der Sack wieder voll war.
Die zweite Aufgabe: Der König warf einen goldenen Schlüssel in einen tiefen, dunklen See. "Hol ihn wieder heraus!", sagte er. Der Prinz schaute ins Wasser und dachte: "Unmöglich!" Aber wieder kam die Prinzessin. Sie rief: "Ihr lieben Enten, schwimmt herbei, taucht tief und holt den Schlüssel frei!" Und siehe da, ein paar Enten kamen angeschwommen, tauchten mit ihren Köpfen unter Wasser und eine von ihnen kam mit dem goldenen Schlüssel im Schnabel zurück.
Die dritte Aufgabe war die kniffligste: Der König führte den Prinzen in einen Raum, wo seine drei Töchter saßen. Sie sahen sich zum Verwechseln ähnlich! "Finde heraus, welche meine jüngste Tochter ist", sagte der König. "Wenn du falsch rätst, ist alles verloren." Die jüngste Prinzessin hatte dem Prinzen aber vorher heimlich einen Tipp gegeben: "Ich werde ein ganz kleines bisschen Honig gegessen haben, und eine winzige Biene wird um meinen Kopf summen, weil sie den Honig riecht." Und so konnte der Prinz die richtige Prinzessin erkennen, weil eine kleine Biene sanft um sie herumflog.
Nun durften der Prinz und die Prinzessin heiraten! Aber sie trauten dem alten König nicht und beschlossen, so schnell wie möglich wegzulaufen. Mitten in der Nacht, als alles schlief, schlichen sie sich aus dem Schloss. Doch der alte König wachte auf und bemerkte ihre Flucht. Wütend jagte er ihnen nach!
Als die Prinzessin ihn kommen hörte, warf sie einen Kamm hinter sich. Wusch! Sofort wuchs daraus ein riesiger Berg voller spitzer Kämme, über den der alte König nur mühsam klettern konnte.
Als er wieder näherkam, warf die Prinzessin einen kleinen Spiegel hinter sich. Klirr! Daraus wurde ein glatter, rutschiger Glasberg. Der alte König rutschte immer wieder ab.
Doch er gab nicht auf. Als er sie fast eingeholt hatte, warf die Prinzessin eine Bürste hinter sich. Ratsch! Ein riesiger Berg aus Borsten und Bürsten entstand, so dicht, dass der alte König nicht mehr hindurchkam. So konnten der Prinz und die Prinzessin sicher entkommen.
Endlich erreichten sie das Schloss des Prinzen. "Warte hier einen Augenblick, meine Liebste", sagte der Prinz. "Ich gehe schnell hinein und hole meinen Vater und meine Mutter. Aber gib gut acht: Lass dich von niemandem auf die linke Wange küssen, sonst vergesse ich dich auf der Stelle!"
Kaum war der Prinz im Schloss, da kam ihm seine Mutter überglücklich entgegen und gab ihm vor lauter Freude einen dicken Kuss – genau auf die linke Wange! Und plumps, in diesem Moment hatte der Prinz seine liebe Prinzessin und alles, was geschehen war, vergessen.
Die arme Prinzessin wartete draußen vor dem Tor, aber der Prinz kam nicht zurück. Sie wurde sehr traurig, baute sich eine kleine Hütte im Wald und verdiente ihr Brot, indem sie Gänse hütete.
Einige Zeit später beschloss der alte König, der Vater des Prinzen, dass sein Sohn heiraten sollte. Eine andere Prinzessin wurde für ihn ausgesucht. Die vergessene Prinzessin hörte von der geplanten Hochzeit. Sie hatte noch ein paar Zauberdinge von ihrer Flucht. Sie ging zur neuen Braut und sagte: "Ich habe ein wunderschönes goldenes Spinnrad. Das schenke ich dir, wenn ich dafür drei Nächte vor der Schlafzimmertür des Prinzen schlafen darf." Die neue Braut dachte, das sei ein guter Tausch, und war einverstanden.
In der ersten Nacht legte sich die Prinzessin vor die Tür und rief traurig:
"Prinz, Prinz, vergiss mich nicht,
ich half dir doch im Felsenlicht!
Die Linsen, den Schlüssel, die Wahl so schwer,
denk an die Flucht, es ist nicht fair!"
Aber der Prinz hörte nichts, denn die Diener hatten ihm auf Befehl der neuen Braut einen Schlaftrunk gegeben.
In der zweiten Nacht rief sie wieder ihre Verse, aber wieder schlief der Prinz tief und fest.
In der dritten Nacht aber hatte ein treuer Diener Mitleid mit der weinenden Prinzessin und gab dem Prinzen nur Wasser statt des Schlaftrunks. Als die Prinzessin wieder ihre traurigen Worte rief, hörte der Prinz sie. Plötzlich, wie ein Blitz, erinnerte er sich an alles! Er sprang aus dem Bett, öffnete die Tür und sah seine wahre, liebe Prinzessin.
"Du bist es!", rief er. "Wie konnte ich dich nur vergessen!"
Er nahm sie in die Arme, und die falsche Braut musste traurig wieder nach Hause gehen. Der Prinz und seine gerettete Prinzessin aber feierten eine fröhliche Hochzeit und lebten glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende.
1680 Aufrufe