Die beiden Wanderer
Grimms Märchen
Hört mal her, Kinder, ich erzähle euch eine Geschichte von zwei Männern, die zusammen auf Wanderschaft gingen.
Der eine war ein Schuster, nennen wir ihn Stiefel-Fritz. Er dachte von sich, er sei der Allerbeste und Klügste. Der andere war ein Schneider, den können wir Nadel-Hans nennen. Nadel-Hans war ein ruhiger, freundlicher und fleißiger Kerl.
Als sie so durch einen großen Wald wanderten, kam plötzlich ein großer, brummiger Bär auf sie zugelaufen! Stiefel-Fritz, der Angeber, kletterte blitzschnell auf den nächsten Baum und ließ Nadel-Hans einfach stehen. Nadel-Hans aber wusste sich zu helfen. Er warf sich platt auf den Boden und tat so, als wäre er kein lebendiges Mäuschen mehr. Der Bär kam näher, schnupperte an Nadel-Hans, brummte einmal kurz und trottete dann davon, weil er dachte, der Schneider sei schon tot.
Als der Bär weg war, kletterte Stiefel-Fritz vom Baum herunter und fragte ganz scheinheilig: "Na, Nadel-Hans, was hat dir denn der Bär ins Ohr geflüstert?"
Nadel-Hans antwortete ruhig: "Er hat mir geraten, nicht mehr mit Leuten zu reisen, die ihre Freunde im Stich lassen, wenn es gefährlich wird."
Sie wanderten weiter und kamen in eine große Stadt. Stiefel-Fritz prahlte gleich herum, was für ein toller Schuster er sei. Aber seine Arbeit war nicht besonders gut, und bald wollte niemand mehr Schuhe von ihm. Nadel-Hans aber war fleißig und geschickt. Seine Kleider waren so schön genäht, dass er bald viele Aufträge bekam und ein angesehener Mann wurde.
Eines Tages sahen sie am Stadttor einen Galgen, an dem zwei Männer hingen. Ein Vöglein zwitscherte vom Galgen herab, dass einer der Männer ein Schuster gewesen sei, der Leder gestohlen hatte. Da bekam Stiefel-Fritz schreckliche Angst, denn er hatte auch schon mal Leder stibitzt, das nicht ihm gehörte. Er wollte sofort aus der Stadt fliehen. Nadel-Hans aber blieb, denn er hatte ein reines Gewissen.
Nadel-Hans wurde in der Stadt immer berühmter und reicher, weil er so ehrlich und gut arbeitete. Er heiratete ein liebes Mädchen und lebte glücklich. Stiefel-Fritz hingegen zog arm und hungrig durch die Welt.
Nach langer Zeit kam Stiefel-Fritz, zerlumpt und elend, wieder in die Stadt, in der Nadel-Hans lebte. Nadel-Hans erkannte ihn und aus Mitleid gab er ihm Arbeit und Essen. Aber Stiefel-Fritz war immer noch genauso hochnäsig und undankbar wie früher. Er machte seine Arbeit schlecht und beschwerte sich nur.
Da sah Nadel-Hans ein, dass manchen Leuten einfach nicht zu helfen ist, wenn sie sich nicht selbst ändern wollen. Er gab Stiefel-Fritz noch ein letztes Mal etwas Geld für die Reise und schickte ihn fort.
Und so seht ihr, Kinder, dass Fleiß und Bescheidenheit oft belohnt werden, aber Hochmut und Faulheit selten zu etwas Gutem führen.
1588 Aufrufe