• Der Liebste Roland

    Grimms Märchen
    Hört mal zu, ich erzähle euch eine spannende Geschichte.

    In einem kleinen Häuschen, nicht weit von hier, lebte ein Mädchen mit ihrer Stiefmutter. Aber ach, die Stiefmutter war insgeheim eine Hexe und mochte das Mädchen überhaupt nicht. Sie hatte auch eine eigene Tochter, die sie über alles liebte, obwohl diese Tochter gar nicht so nett war.

    Eines Tages dachte die böse Stiefmutter: "Das Mädchen muss weg!" Sie flüsterte ihrer eigenen Tochter zu: "Heute Nacht, wenn alles schläft, werde ich der Stieftochter den Kopf abschlagen. Leg du dich ganz hinten ins Bett, damit ich dich nicht erwische, und die Stieftochter soll vorne liegen."

    Das kluge Mädchen hatte aber gelauscht. Als es Abend wurde und die Tochter der Hexe schon fest schlief, schob das Mädchen sie ganz vorsichtig nach vorne an den Bettrand und legte sich selbst ganz nach hinten. Mitten in der Nacht schlich die Hexe mit einer Axt ins Zimmer. Sie dachte, ihre Stieftochter läge vorne, und hieb zu. Aber ach, es war ihre eigene Tochter!

    Als die Hexe am Morgen sah, was sie getan hatte, wurde sie furchtbar zornig. Das Mädchen aber lief schnell zu ihrem Liebsten, der Roland hieß, und rief: "Roland, wir müssen fliehen! Die Hexe wird uns sonst schnappen!" Roland sagte: "Keine Sorge. Nimm aber schnell ihren Zauberstab mit, den brauchen wir!"

    Sie schnappten sich den Zauberstab und rannten, was das Zeug hielt. Die Hexe aber zog ihre Siebenmeilenstiefel an, mit denen sie riesige Schritte machen konnte, und eilte ihnen nach.

    Als die Hexe schon fast bei ihnen war, rief das Mädchen: "Liebster Roland, ich verwandle dich schnell in einen See und mich in eine kleine Ente, die darauf schwimmt!" Kaum hatte sie den Zauberstab geschwungen, war Roland ein See und sie eine Ente. Die Hexe kam an den See, sah die Ente und wollte sie locken, aber die Ente schwamm immer davon. Wütend musste die Hexe umkehren.

    Aber nicht lange, da hörten sie die Hexe schon wieder heranstapfen. "Schnell, Roland!", rief das Mädchen. "Ich verwandle dich in einen dichten Rosenbusch und mich in eine einzelne Rose darin!" Wieder schwang sie den Stab, und so geschah es. Die Hexe kam, sah den schönen Rosenbusch mit der einen Rose und wollte sie abreißen. Aber als sie zugriff, stachen die Dornen sie so fest in die Finger, dass sie es aufgeben musste.

    Doch die Hexe gab nicht auf. Zum dritten Mal kam sie ihnen gefährlich nahe. "Ach, Roland!", seufzte das Mädchen. "Jetzt verwandle ich dich in einen Musikanten und mich in seine Geige. Und wenn die Hexe kommt, musst du spielen!" Gesagt, getan. Als die Hexe den Musikanten sah, begann Roland auf der Geige zu spielen. Die Musik war so zauberhaft, dass die Hexe anfangen musste zu tanzen, ob sie wollte oder nicht. Sie tanzte und tanzte, immer wilder und schneller, durch Dornen und Gestrüpp, bis sie schließlich müde zu Boden fiel und nicht mehr aufstand.

    Nun waren sie gerettet! Roland sagte: "Ich gehe jetzt nach Hause und bereite alles für unsere Hochzeit vor. Warte du hier auf mich. Damit dich niemand erkennt, verwandle ich dich mit dem Zauberstab in einen roten Feldstein." Das Mädchen wurde zu einem Stein und wartete.

    Aber Roland kam und kam nicht zurück. Zu Hause hatte er eine andere Frau kennengelernt und seine treue Liebste ganz vergessen. Der rote Stein am Wegesrand war sehr traurig. Eines Tages dachte er: "Ich will kein Stein mehr sein!" und verwandelte sich in eine wunderschöne, einsame Blume.

    Ein Schäfer kam des Weges, sah die prächtige Blume und pflückte sie. Er nahm sie mit nach Hause und stellte sie in ein Glas Wasser. Von diesem Tag an war es seltsam: Immer wenn der Schäfer etwas sagte, wiederholte die Blume seine Worte! Das war ein richtiges Wunder. Der Schäfer erzählte es überall herum, und so hörte auch Roland davon.

    Roland wurde neugierig und besuchte den Schäfer. Als Roland zu sprechen begann, wiederholte die Blume auch seine Worte. Da erinnerte sich Roland plötzlich an alles! "Das ist meine Liebste!", rief er. In diesem Augenblick verwandelte sich die Blume zurück in das Mädchen. Roland bat sie von Herzen um Verzeihung, dass er sie vergessen hatte. Sie verzieh ihm, und bald darauf feierten sie eine fröhliche Hochzeit und lebten glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende.

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