• Der Garten des Paradieses

    Andersens Märchen
    Ein junger Prinz, nennen wir ihn einfach Prinz Klugkopf, liebte Bücher über alles. Er las jedes Buch in der königlichen Bibliothek, aber am allerliebsten waren ihm die Geschichten über den Garten Eden, das Paradies. "Ach," seufzte er oft, "wenn ich doch nur einmal dorthin könnte!" Er stellte sich vor, wie es dort wohl aussähe: bunte Blumen, die singen, und Bäume mit Früchten, die klüger machen.

    Eines Abends, als ein starker Wind ums Schloss pfiff und die Fensterläden klapperten, hörte der Prinz ein Klopfen an seinem Fenster. Er öffnete es und herein wirbelte ein wilder Geselle mit langen, wehenden Haaren und einem Mantel, der aussah wie Wolken. "Hallo!", rief der Mann mit donnernder Stimme. "Ich bin der Ostwind! Ich komme von weit her und habe schon fast die ganze Welt gesehen!"

    Prinz Klugkopf war ganz aufgeregt. "Oh, Herr Ostwind," fragte er, "waren Sie vielleicht schon einmal im Paradiesgarten?"
    Der Ostwind lachte. "Aber sicher doch! Ich kenne den Weg. Willst du mitkommen?"
    Der Prinz musste nicht zweimal überlegen. "Ja, bitte!", rief er.

    Der Ostwind packte den Prinzen sanft am Arm, und schwups, flogen sie davon, höher und schneller als jeder Vogel. Sie flogen über hohe Berge, tiefe Täler und weite, blaue Meere. Der Prinz hielt sich gut fest und staunte.

    Nach einer langen Reise landeten sie vor einer dunklen Höhle, die von dichten, grünen Pflanzen umrankt war. "Hier sind wir", sagte der Ostwind. "Das ist der Eingang zum Paradiesgarten. Aber sei vorsichtig, Prinz. Es gibt Regeln."

    Der Prinz trat neugierig in die Höhle. Dahinter öffnete sich ein Garten, so wunderschön, dass ihm der Atem stockte. Alles glitzerte und leuchtete in den tollsten Farben. Blumen sangen leise Melodien, und die Luft duftete nach Honig und Zimt. In der Mitte des Gartens standen zwei besondere Bäume: der Baum der Erkenntnis, dessen Früchte klug machten, und der Baum des Lebens.

    Eine wunderschöne Fee mit Flügeln wie Schmetterlinge kam auf den Prinzen zu. Sie war die Hüterin des Gartens. "Willkommen, Prinz", sagte sie mit einer Stimme wie Glockenspiel.

    Der Ostwind musste nun weiterziehen, denn er hatte noch viele andere Orte zu besuchen. Bevor er ging, flüsterte er dem Prinzen ins Ohr: "Ich bin für hundert Jahre unterwegs. Du darfst hierbleiben und alles genießen. Aber eine Sache darfst du nicht tun: Du darfst die Fee nicht küssen, solange ich fort bin. Wenn du es doch tust, musst du den Garten verlassen und er wird für dich versinken."

    Der Prinz versprach, sich daran zu halten. Er verbrachte eine herrliche Zeit im Garten. Er spielte mit den Tieren, lauschte den singenden Blumen und sprach mit der lieben Fee. Sie war so freundlich und klug, und ihre Augen leuchteten wie Sterne. Der Prinz fühlte sich so glücklich wie nie zuvor.

    Doch je länger er bei der Fee war, desto mehr vergaß er die Warnung des Ostwinds. Die Fee war einfach zu bezaubernd. Eines Tages, als sie lachend unter dem Baum der Erkenntnis saßen, beugte sich der Prinz vor und gab ihr einen sanften Kuss auf die Wange.

    In diesem Augenblick zuckte ein heller Blitz durch den Garten, und ein lauter Donner krachte. Der Boden bebte, und der wunderschöne Garten begann langsam zu versinken. Die Blumen hörten auf zu singen, und die Farben verblassten.
    Die Fee sah den Prinzen traurig an. "Oh, Prinz", sagte sie leise, "du hast die Warnung vergessen."
    Der Prinz spürte, wie er aus dem Garten hinausgestoßen wurde, zurück in die kalte, dunkle Nacht vor der Höhle. Der Eingang war verschwunden.

    Der Prinz war untröstlich. Er hatte das Allerschönste verloren, nur weil er nicht gehört hatte. Er weinte bitterlich.
    Da erschien eine ernste, aber freundliche Gestalt neben ihm. Es war der Tod, der mit sanfter Stimme sprach: "Sei nicht so traurig, kleiner Prinz. Den Paradiesgarten kann man nicht einfach so betreten und verlassen. Aber wenn du ein gutes und ehrliches Leben führst, anderen hilfst und dein Herz rein hältst, dann, eines fernen Tages, wenn deine Zeit auf der Erde vorbei ist, werde ich dich abholen und dir den Weg zurück ins ewige Paradies zeigen."

    Der Prinz verstand. Er kehrte in sein Königreich zurück. Er vergaß den Paradiesgarten nie, aber er lebte von nun an so, wie es der Tod ihm geraten hatte. Er wurde ein guter und weiser König und hoffte, eines Tages die Fee und den wunderschönen Garten wiederzusehen.

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