• Die roten Schuhe

    Andersens Märchen
    Es gab da ein kleines Mädchen, das hieß Karen. Sie war sehr arm und hatte im Sommer nackte Füße und im Winter klobige Holzschuhe, die ihre Knöchel ganz wund rieben. Nichts wünschte sie sich sehnlicher als ein Paar rote Schuhe. Eines Tages, als ihre Mutter gestorben war und sie ganz allein auf der Welt war, kam eine alte, reiche Dame in einer Kutsche vorbei. Sie sah Karen und nahm sie mit zu sich nach Hause.

    Die alte Dame war sehr nett, aber sie verstand nicht viel von Mode. Sie ließ Karens alte, selbstgemachte rote Stoffschuhe verbrennen, was Karen sehr traurig machte. Als Karen konfirmiert werden sollte, kaufte die alte Dame ihr ein Paar wunderschöne, glänzende rote Lackschuhe. Karen war überglücklich! Sie waren so schön, dass sie sie gleich in der Kirche anziehen wollte, obwohl das eigentlich nicht passte.

    In der Kirche dachte Karen nur an ihre roten Schuhe. Alle Leute schauten sie an, und Karen fühlte sich wie eine Prinzessin. Als sie aus der Kirche kam, stand da ein alter Soldat mit einem Krückstock. Er tippte an Karens Schuhe und sagte: "Ei, was für schöne Tanzschuhe!" Karen wurde ein bisschen rot, aber es gefiel ihr.

    Als sie nach Hause gehen wollte, fingen ihre Füße an, von selbst zu tanzen. Die Schuhe wollten tanzen, und Karen konnte sie nicht aufhalten! Sie tanzten sie die Straße entlang, bis die alte Dame sie endlich in die Kutsche zog. Die roten Schuhe wurden in den Schrank gestellt, aber Karen konnte sie nicht vergessen.

    Eines Tages gab es einen großen Ball in der Stadt. Die alte Dame war krank und konnte nicht mitgehen. Karen schlich sich zum Schrank, zog die roten Schuhe an und ging heimlich zum Ball. Sobald sie zu tanzen begann, konnte sie nicht mehr aufhören. Die Schuhe tanzten mit ihr aus dem Ballsaal hinaus, in die dunkle Nacht.

    Sie tanzte und tanzte, durch Wälder und über Felder, bei Regen und Sonnenschein. Ihre Füße taten weh, aber die Schuhe tanzten unaufhörlich weiter. Sie tanzte an der Kirche vorbei, und da sah sie einen Engel stehen. Der Engel sagte mit ernster Stimme: "Tanzen sollst du in deinen roten Schuhen, bis du bleich und kalt bist! Tanzen sollst du von Tür zu Tür, und wo stolze Kinder wohnen, sollst du anklopfen, damit sie dich sehen und sich fürchten!"

    Karen erschrak furchtbar. Sie weinte und bat, aber die Schuhe tanzten weiter. Verzweifelt tanzte sie zum Haus des Scharfrichters. "Bitte", flehte sie, "hack mir die Füße ab mit den roten Schuhen!" Der Scharfrichter hatte Mitleid und tat, worum sie bat. Die roten Schuhe mit den Füßen darin tanzten allein davon, hinaus in den Wald.

    Karen bekam Holzfüße und einen Stock. Sie fand Arbeit im Pfarrhaus und war nun ein bescheidenes und frommes Mädchen. Jeden Sonntag wollte sie in die Kirche gehen, aber jedes Mal, wenn sie sich der Tür näherte, sah sie die roten Schuhe vor ihr tanzen und fürchtete sich.

    So blieb sie in ihrem kleinen Zimmer und betete. Eines Sonntags, als sie den Gesang aus der Kirche hörte, wurde ihr Zimmer von hellem Sonnenlicht erfüllt. Ein Engel stand vor ihr, lächelte sie an und reichte ihr die Hand. Karens Herz wurde so leicht und voller Freude, dass es brach. Ihre Seele flog auf dem Sonnenstrahl zu Gott, und dort fragte niemand nach den roten Schuhen.

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