Die wilden Schwäne
Andersens Märchen
In einem Königreich, umgeben von tiefen Wäldern und glitzernden Seen, lebte einst ein König mit seinen zwölf Kindern. Elf von ihnen waren kühne Prinzen und das zwölfte Kind war eine wunderschöne Prinzessin namens Elisa. Sie spielten und lachten den ganzen Tag im großen Schlossgarten.
Doch eines Tages heiratete der König eine neue Frau. Diese neue Königin hatte ein kaltes Herz und mochte die Kinder überhaupt nicht. Besonders Elisa und ihre Brüder waren ihr ein Dorn im Auge.
Eines Morgens, als die Sonne gerade aufging, sprach die böse Königin einen gemeinen Zauberspruch. "Fliegt hinaus in die Welt als wilde Vögel!", rief sie den elf Prinzen zu. Und schwups – da verwandelten sich die Prinzen in elf prächtige, weiße Schwäne und flogen mit lautem Geschrei davon, hoch über die Wälder und Berge.
Elisa war untröstlich und weinte bitterlich. Die böse Königin aber rieb sich die Hände vor Freude. Sie beschmierte Elisas Gesicht mit Ruß und zerriss ihre schönen Kleider, sodass niemand sie mehr erkannte. Dann jagte sie Elisa aus dem Schloss.
Elisa wanderte viele Tage und Nächte, ganz allein und traurig. Sie suchte überall nach ihren Brüdern. Schließlich kam sie an das große, weite Meer. Dort, als die Sonne langsam im Wasser versank, sah sie elf Schwäne ans Ufer fliegen. Als es ganz dunkel wurde, oh Wunder, da verwandelten sich die Schwäne zurück in ihre Brüder! Wie groß war die Freude! Die Prinzen erzählten Elisa, dass sie nur bei Nacht Menschen sein konnten. Am Tag mussten sie als Schwäne über das Meer fliegen.
Elisa wollte ihre Brüder unbedingt retten. In dieser Nacht erschien ihr im Traum eine gute alte Frau. Die Frau sagte: "Du kannst deine Brüder erlösen. Sammle Brennnesseln, die auf Friedhöfen oder in Höhlen wachsen. Zerstampfe sie mit deinen bloßen Füßen zu Fasern, spinne daraus Garn und stricke daraus elf Hemden. Für jeden Bruder ein Hemd. Aber Achtung! Während dieser ganzen Zeit, vom ersten Nesselstich bis zum letzten fertigen Hemd, darfst du kein einziges Wort sprechen. Sprichst du doch, so sterben deine Brüder."
Das war eine schwere Aufgabe! Die Brennnesseln stachen und brannten auf Elisas zarter Haut, ihre Hände und Füße waren voller Blasen. Aber sie dachte an ihre lieben Brüder und schwieg tapfer. Sie sammelte die Nesseln, zerstampfte sie, spann das grüne Garn und begann zu stricken.
Eines Tages, als sie im Wald Nesseln sammelte, kam ein junger König auf der Jagd vorbei. Er sah die stumme, schöne Elisa mit ihren zerschundenen Händen und verliebte sich sofort in sie, denn sie hatte ein so gutes und sanftes Wesen. Er nahm sie mit in sein Schloss und wollte sie heiraten, auch wenn sie nicht sprechen konnte.
Die Leute im Schloss wunderten sich über die stumme Braut, die Tag und Nacht an seltsamen Hemden aus Nesseln strickte. Besonders der Erzbischof, ein strenger Mann, fand das sehr verdächtig. "Sie ist eine Hexe!", flüsterte er dem König zu. "Sie treibt heimlich böse Dinge!"
Als Elisa eines Nachts heimlich zum Friedhof ging, um neue Nesseln zu holen – denn ihre waren ausgegangen – folgte ihr der Erzbischof. Er sah, wie sie zwischen den Gräbern Nesseln pflückte und war sich nun ganz sicher: "Eine Hexe!" Elisa wurde gefangen genommen und sollte auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden, weil alle glaubten, sie sei böse.
Auf dem Weg zur Hinrichtung saß Elisa auf dem Karren und strickte unermüdlich am letzten Hemd. Die Leute spotteten und riefen ihr böse Worte zu, aber sie schwieg und strickte weiter. Zehn Hemden waren schon fertig.
Als sie den Platz erreichten, wo das Feuer schon loderte, kamen plötzlich elf weiße Schwäne vom Himmel herabgesaust. Sie landeten um Elisa herum. Elisa warf schnell die zehn fertigen Hemden und das elfte, fast fertige Hemd über sie. Im selben Augenblick verwandelten sich die Schwäne in ihre Brüder! Nur der jüngste Prinz hatte noch einen Schwanenflügel anstelle eines Armes, weil sein Hemd nicht ganz fertig geworden war und ein Ärmel fehlte.
Jetzt endlich konnte Elisa sprechen! "Ich bin unschuldig!", rief sie. Sie erzählte dem König und allen Leuten ihre ganze traurige Geschichte, von der bösen Stiefmutter, der Verwandlung ihrer Brüder und ihrer schweren Aufgabe.
Der König war tief berührt und bat sie um Verzeihung, dass er ihr nicht geglaubt hatte. Das Volk jubelte Elisa und ihren Brüdern zu. Die böse Stiefmutter? Von der hörte man nie wieder etwas, sie verschwand einfach.
Elisa und der junge König heirateten und feierten ein großes Fest. Sie lebten glücklich und zufrieden mit den elf Prinzen im Schloss, und der jüngste Prinz trug seinen Schwanenflügel mit Stolz, als Zeichen der Liebe und des Opfers seiner Schwester.
1086 Aufrufe