Der Holunderbaum
Andersens Märchen
Hört mal zu, Kinder, ich erzähle euch was von einem kleinen Jungen und einem besonderen Baum.
Es war einmal ein kleiner Junge, der lag mit einer Erkältung im Bett. Draußen war es ungemütlich und regnerisch. Seine liebe Mutter kochte ihm einen Tee aus Holunderblüten, denn der sollte ihm helfen, schnell wieder gesund zu werden. "Das wärmt dich schön", sagte sie und stellte die dampfende Tasse auf den Nachttisch.
Neben dem Bett saß ein alter, freundlicher Mann, der oft zu Besuch kam. Er sah den Jungen an und sagte: "Wenn du deinen Tee trinkst, erzähle ich dir eine Geschichte. Eine Geschichte von einem Holunderbusch."
Der kleine Junge kuschelte sich in seine Decke und lauschte gespannt.
Der alte Mann begann: "Es gab einmal ein altes Ehepaar, das sich sehr, sehr liebte. Sie wohnten in einem kleinen Haus mit einem Garten, und in diesem Garten stand ein prächtiger Holunderbusch. Weißt du, als sie noch Kinder waren, hatten sie diesen Busch zusammen gepflanzt. Es war nur ein kleiner Zweig, aber sie gossen ihn jeden Tag."
Der alte Mann lächelte. "Unter diesem Busch spielten sie als Kinder Verstecken. Später, als sie jung und verliebt waren, saßen sie oft an lauen Sommerabenden darunter und erzählten sich ihre Träume. Der Holunderbusch blühte dann so wunderschön weiß und duftete süß."
"Und als sie heirateten", fuhr der alte Mann fort, "pflückten sie Holunderblüten für den Brautstrauß. Viele Jahre später, als ihre Haare schon grau waren, feierten sie ihre goldene Hochzeit. Und wo, glaubst du? Natürlich unter ihrem alten Freund, dem Holunderbusch, der nun groß und stark war und ihnen Schatten spendete."
Der alte Mann erzählte, dass die Leute sagten, in jedem Holunderbusch wohne eine Holundermutter. Eine gute Fee, die auf den Busch und die Menschen achtete. Manchmal, wenn man ganz leise war, konnte man sie vielleicht sehen, wie sie zwischen den Blättern hervorlugte.
Während der alte Mann erzählte, wurde der kleine Junge ganz schläfrig vom warmen Tee und der sanften Stimme. Seine Augen fielen langsam zu.
Und plötzlich war er nicht mehr in seinem Bett! Er stand in einem sonnigen Garten, und vor ihm rauschte ein riesiger Holunderbusch. Eine freundliche Frau mit einem Lächeln so warm wie die Sonne und Blüten im Haar kam aus dem Busch hervor. Es musste die Holundermutter sein!
Sie nahm den kleinen Jungen bei der Hand und sagte: "Komm, ich zeige dir was." Und wie durch einen Zauber sah er das alte Ehepaar, aber sie waren jung! Sie lachten und tanzten unter dem blühenden Holunder. Dann sah er sie als Kinder, wie sie einen kleinen Zweig in die Erde steckten. Es war, als ob er durch die Zeit reisen würde, gehalten an der Hand der lieben Holundermutter. Sie segelten sogar auf einem Schiff über ein glitzerndes Meer, und die Holundermutter war immer dabei, mal als junge Frau, mal als weise alte Dame.
Als der kleine Junge am nächsten Morgen aufwachte, schien die Sonne hell in sein Zimmer. Die Erkältung war fast verschwunden. Er fühlte sich viel besser. Er dachte an den Traum und an die Geschichte des alten Mannes.
Der alte Mann saß wieder am Frühstückstisch und lächelte ihn an. "Na," sagte er, "hat dir der Holundertee und die Geschichte gutgetan?"
Der kleine Junge nickte fröhlich. Er wusste jetzt, dass Holunderbüsche nicht nur schöne Blumen und Beeren hatten, sondern auch voller wunderbarer Erinnerungen und vielleicht sogar ein bisschen Magie steckten. Und jedes Mal, wenn er danach einen Holunderbusch sah, musste er lächeln und dachte an die Holundermutter und das glückliche alte Ehepaar.
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