• Frau Holle

    Andersens Märchen
    Stellt euch vor, in einem kleinen, hübschen Haus wohnte einmal eine Witwe mit ihren zwei Töchtern. Die eine Tochter war so fleißig und lieb, dass alle sie Goldmarie nannten. Die andere aber war faul und gar nicht nett, und sie hieß Pechmarie. Die Mutter hatte Pechmarie viel lieber, obwohl Goldmarie die ganze schwere Arbeit im Haus machen musste, vom Keller bis zum Dachboden.

    Eines Tages saß Goldmarie am Brunnen und spann Wolle, bis ihre Finger wund waren. Plötzlich, oje, fiel ihr die Spindel in den tiefen Brunnen hinein. Sie weinte bitterlich und erzählte es ihrer Mutter. Die Mutter aber schimpfte: "Du hast sie hineinfallen lassen, also hol sie auch wieder raus!" Goldmarie hatte große Angst, aber was sollte sie tun? Sie sprang in den Brunnen.

    Als sie wieder zu sich kam, lag sie auf einer wunderschönen Blumenwiese. Die Sonne schien warm und die Vögel sangen. Sie ging ein Stück und kam zu einem Backofen, aus dem rief es: "Ach, hol mich raus, hol mich raus, sonst verbrenn ich! Ich bin schon lange fertig gebacken!" Goldmarie zögerte nicht, nahm den Brotschieber und holte all die knusprigen Brote heraus.

    Dann kam sie zu einem Apfelbaum, der war über und über voll mit roten Äpfeln und rief: "Ach, schüttle mich, schüttle mich, meine Äpfel sind alle reif!" Goldmarie schüttelte den Baum kräftig, bis die Äpfel wie ein Regen herunterfielen, und legte sie ordentlich auf einen Haufen.

    Schließlich kam sie zu einem kleinen Haus. Daraus schaute eine alte Frau mit großen, aber freundlichen Augen. Das war Frau Holle. Goldmarie hatte zuerst ein bisschen Angst, aber Frau Holle sprach so nett zu ihr: "Liebes Kind, wenn du mir im Haus hilfst und mein Bett gut aufschüttelst, damit die Federn fliegen – denn dann schneit es auf der Welt – dann sollst du es gut bei mir haben."

    Goldmarie sagte ja und gab sich große Mühe. Sie tat alles, was Frau Holle ihr sagte, und schüttelte die Betten jeden Morgen so kräftig, dass die Federn wie Schneeflocken umherflogen. Dafür bekam sie immer gutes Essen und hatte ein weiches Bett.

    Nach einer ganzen Weile aber bekam Goldmarie Heimweh. Sie hatte zwar ein schönes Leben bei Frau Holle, aber sie vermisste ihr Zuhause. Frau Holle sagte: "Das ist recht, liebes Kind. Weil du so fleißig und gut zu mir warst, will ich dich selbst wieder nach oben bringen." Sie nahm Goldmarie an der Hand und führte sie zu einem großen Tor. Als Goldmarie durch das Tor ging, fiel ein warmer Goldregen auf sie herab, und all ihre Kleider waren plötzlich aus purem Gold. "Das ist dein Lohn für deine Arbeit", sagte Frau Holle. Und schwups, stand Goldmarie wieder oben bei ihrem Brunnen, nicht weit von ihrem Haus.

    Als sie nach Hause kam, saß der Hahn auf dem Dach und krähte: "Kikeriki! Unsere goldene Jungfrau ist wieder hie!" Die Mutter und Pechmarie staunten nicht schlecht, als sie Goldmarie so golden sahen.

    Als die Mutter hörte, wie Goldmarie zu dem Reichtum gekommen war, wollte sie, dass Pechmarie das gleiche Glück widerfahre. Also musste Pechmarie sich auch an den Brunnen setzen und spinnen. Damit die Spindel blutig wurde, stach sie sich absichtlich in den Finger und warf die Spindel dann in den Brunnen. Dann sprang sie hinterher.

    Auch sie kam auf die Blumenwiese und ging denselben Weg. Als das Brot im Ofen rief: "Ach, hol mich raus!", antwortete Pechmarie: "Keine Lust, mich schmutzig zu machen!" Als der Apfelbaum rief: "Ach, schüttle mich!", sagte sie: "Du lieber Himmel, dann fällt mir ja ein Apfel auf den Kopf!" und ging weiter.

    Als sie zu Frau Holles Haus kam, hatte sie gar keine Angst. Sie bot Frau Holle ihre Dienste an. Am ersten Tag war Pechmarie noch ein bisschen fleißig, weil sie an das Gold dachte. Aber am zweiten Tag wurde sie schon faul, und am dritten wollte sie morgens gar nicht mehr aufstehen. Sie schüttelte auch Frau Holles Betten nicht richtig, sodass kaum Federn flogen und es auf der Welt auch nicht schneite.

    Das gefiel Frau Holle gar nicht, und bald sagte sie Pechmarie, dass ihre Arbeit zu Ende sei. Pechmarie freute sich schon und dachte, jetzt kommt der Goldregen. Frau Holle führte sie auch zu dem Tor. Aber als Pechmarie hindurchging, fiel kein Gold, sondern ein großer Kessel voll schwarzem, klebrigem Pech über sie. "Das ist der Lohn für deine Faulheit", sagte Frau Holle.

    Als Pechmarie nach Hause kam, ganz schwarz und klebrig von oben bis unten, krähte der Hahn auf dem Dach: "Kikeriki! Unsere schmutzige Jungfrau ist wieder hie!" Und das Pech, das blieb an ihr kleben und ging ihr ganzes Leben lang nicht mehr ab.

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