Der Liebesvogel
Andersens Märchen
In einer großen, bunten Spielzeugkiste wohnten viele Spielsachen. Darunter waren ein pfiffiger Kreisel aus Mahagoniholz und ein wunderschöner Ball aus feinem Leder. Der Kreisel war heimlich bis über beide Ohren in den Ball verliebt. Er fand sie einfach zauberhaft.
Eines Tages fasste der Kreisel all seinen Mut zusammen. Er tanzte auf seiner Spitze ganz nah an den Ball heran und fragte: "Liebster Ball, du bist so wunderbar. Möchtest du vielleicht meine Frau werden?"
Der Ball, der sich für etwas ganz Besonderes hielt, kicherte ein wenig. "Du, kleiner Kreisel? Aber ich bin doch so gut wie mit einer Schwalbe verlobt! Stell dir vor, ich kann hoch in die Luft fliegen, wenn die Kinder mit mir spielen. Du kannst dich nur hier unten auf dem Boden drehen." Das war nicht sehr nett vom Ball.
Der Kreisel war traurig, aber er sagte nichts.
Viele Jahre zogen ins Land. Der Kreisel wurde eines Tages mit Goldfarbe bemalt. Oh, wie er jetzt glänzte! Er sah noch viel vornehmer aus als vorher. Der Ball hingegen wurde älter und älter. Das Leder wurde rissig und die Farben verblassten.
Eines Tages, als der goldene Kreisel sich fröhlich im Zimmer drehte, entdeckte er etwas in einer Ecke, beim Kehricht. Er schaute genauer hin. Es war der Ball! Aber wie er aussah! Ganz alt, schmutzig und ein bisschen platt. Man konnte kaum noch erkennen, dass er einmal so schön gewesen war.
Der Ball erkannte den prächtigen, goldenen Kreisel nicht wieder. Und der Kreisel? Er tat so, als würde er den alten, vergessenen Ball auch nicht erkennen. Er dachte nur bei sich: "So schnell kann Schönheit vergehen. Und manchmal auch die Liebe." Er war immer noch ein bisschen stolz, der goldene Kreisel.
Nicht lange danach wurde auch der goldene Kreisel nicht mehr oft zum Spielen herausgeholt. Er hatte hier und da eine kleine Delle bekommen. Eines Tages nahm ihn das Dienstmädchen und warf ihn achtlos zum Kehricht – genau dorthin, wo der alte Ball schon lag.
Da lagen sie nun zusammen, der einst so glänzende Kreisel und der vergessene Ball. Niemand spielte mehr mit ihnen, und niemand dachte mehr daran, wie schön sie einmal gewesen waren. Manchmal ist eben auch das schönste Gold nicht für immer.
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