• Die zwölf Monate

    Andersens Märchen
    In einem kleinen, verschneiten Häuschen am Rande eines großen Waldes lebte ein Mädchen namens Mariechen. Sie war so lieb und fleißig wie ein Sommermorgen, aber ihre Stiefmutter, Frau Grimm, und ihre Stiefschwester Liese waren so frostig und unfreundlich wie ein kalter Wintertag.

    Eines Tages, als draußen der Schnee meterhoch lag und der Wind um die Hausecken pfiff, sagte Frau Grimm: "Mariechen, geh in den Wald und hol mir einen Strauß duftender Veilchen. Ich habe Lust darauf!"
    "Aber Mutter," piepste Mariechen, "wo soll ich denn jetzt Veilchen finden? Alles ist doch voller Schnee!"
    "Keine Widerrede!", herrschte Frau Grimm sie an. "Geh und komm nicht ohne Veilchen zurück!"

    Traurig stapfte Mariechen in den tiefen, kalten Wald. Ihre kleinen Füße sanken tief in den Schnee und ihre Nase wurde rot vor Kälte. Nach einer Weile sah sie in der Ferne ein helles Licht. Neugierig ging sie darauf zu und entdeckte ein großes Feuer. Um das Feuer herum saßen zwölf Männer. Drei hatten schneeweiße Bärte, drei grüne Hüte, drei sonnengelbe Westen und drei bunte Mäntel aus Herbstlaub. Der Älteste von ihnen, mit einem Bart so weiß wie der frisch gefallene Schnee, war der Januar.

    "Guten Tag, liebe Männer," sagte Mariechen höflich und verbeugte sich. "Darf ich mich ein wenig an eurem Feuer wärmen?"
    "Aber natürlich, liebes Kind," sagte der Januar freundlich. "Was führt dich denn bei diesem Wetter in den Wald?"
    Mariechen erzählte von den Veilchen. Da lachte ein Mann mit einem grünen Hut, der März: "Warte, Bruder Januar, lass mich das machen!" Er nahm einen Stab, schwang ihn über das Feuer, und plötzlich wurde es wärmer. Der Schnee schmolz, Gras spross, und überall blühten duftende Veilchen. Mariechen pflückte schnell einen großen Strauß, bedankte sich tausendmal und eilte nach Hause.

    Frau Grimm und Liese rissen die Augen auf, als sie die Veilchen sahen. "Wo hast du die her?", fragte Liese gierig. Mariechen erzählte von den zwölf Männern am Feuer.

    Ein paar Tage später bekam Liese Lust auf Erdbeeren. "Mariechen," quengelte sie, "geh und hol mir Erdbeeren! Rote, süße Erdbeeren!"
    Wieder musste Mariechen in den Wald. Wieder fand sie das Feuer und die zwölf Männer.
    "Oh, ihr guten Männer," sagte sie, "meine Schwester Liese wünscht sich Erdbeeren."
    Diesmal stand ein Mann mit sonnengelber Weste auf, der Juni. "Das ist meine Spezialität!", rief er, schwang seinen Stab, und im Nu war es Sommer. Die Sonne schien warm, und rote, saftige Erdbeeren wuchsen auf dem Waldboden. Mariechen füllte ihr Körbchen, bedankte sich herzlich und ging heim.

    Als Liese die Erdbeeren sah, wurde sie noch gieriger. Und Frau Grimm dachte: "Wenn dieses dumme Mariechen das kann, dann können wir das auch!"

    Am nächsten Tag sagte Frau Grimm: "Ich will rote Äpfel, direkt vom Baum! Mariechen, du weißt, was du zu tun hast."
    Mariechen ging zum dritten Mal zu den zwölf Männern. "Verzeiht, dass ich schon wieder störe," sagte sie schüchtern, "aber meine Stiefmutter wünscht sich frische Äpfel."
    Ein Mann mit einem bunten Herbstmantel, der September, lächelte. "Kein Problem, mein Kind." Er schwang seinen Stab, und ein Apfelbaum voller reifer, roter Äpfel erschien. Mariechen pflückte die schönsten Äpfel, bedankte sich von Herzen und eilte zurück.

    Nun aber wollten Frau Grimm und Liese selbst ihr Glück versuchen. "Wir holen uns noch viel mehr!", rief Liese und zog ihre Mutter mit in den Wald. Sie fanden das Feuer und die zwölf Männer.
    Aber anstatt höflich zu bitten, schrie Liese: "He, ihr da! Gebt uns sofort Erdbeeren und Äpfel, und zwar die besten!"
    Frau Grimm fügte hinzu: "Und zwar schnell, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit!"
    Die zwölf Männer sahen sich finster an. Der alte Januar runzelte die Stirn. "So eine Unverschämtheit!" Er ergriff seinen Stab und schwang ihn kräftig. Ein eisiger Sturm brach los, der Schnee peitschte Frau Grimm und Liese ins Gesicht, und sie konnten kaum noch etwas sehen. Zitternd und ohne ein einziges Früchtchen rannten sie nach Hause, so schnell sie ihre kalten Füße trugen.

    Von diesem Tag an waren Frau Grimm und Liese ein bisschen weniger gemein, denn sie hatten gelernt, dass man mit Unfreundlichkeit nicht weit kommt. Mariechen aber lebte weiter fröhlich in dem kleinen Häuschen. Und immer, wenn sie in den Wald ging, dachte sie an die zwölf freundlichen Monate, die ihr geholfen hatten, weil sie so lieb und höflich gewesen war.

    1326 Aufrufe