• Der Räuberbräutigam

    Grimms Märchen
    In einem Tal, wo ein kleiner Fluss plätscherte, stand eine Mühle. Dort lebte ein Müller mit seiner Tochter, die so hübsch war wie ein Sonnentag. Eines Tages kam ein vornehmer Herr zur Mühle. Er war reich gekleidet und hatte glänzende Stiefel an. Er sagte, er wolle die Müllerstochter heiraten. Dem Müller gefiel das gut, aber seine Tochter hatte ein seltsames Gefühl im Bauch, wenn sie den Mann ansah. Sie wusste nicht warum, aber irgendetwas stimmte nicht.

    Der Bräutigam sagte: "Am Sonntag musst du mich in meinem Haus im Wald besuchen kommen." Das Mädchen wollte nicht, aber ihr Vater sagte, sie solle gehen. Sie bekam Angst und dachte: "Wie finde ich nur den Weg durch den dunklen Wald und wieder zurück?" Da hatte sie eine Idee. Sie füllte ihre Taschen voller Erbsen und Linsen. "Die streue ich auf den Weg", dachte sie, "dann finde ich zurück."

    Als sie am Sonntag in den Wald ging, streute sie die Erbsen und Linsen hinter sich. Aber ach, die vielen Vögel im Wald pickten alles auf, und als sie beim Haus des Bräutigams ankam, war keine Erbse mehr zu sehen. Das Haus sah düster und verlassen aus. Es war ganz still. Sie rief, aber niemand antwortete.

    Da hörte sie eine Stimme aus dem Haus. Es war ein kleiner Vogel in einem goldenen Käfig, der sang:
    "Kehr um, kehr um, du junge Braut,
    Du bist in einem Mörderhaus!"

    Das Mädchen erschrak. Sie ging vorsichtig ins Haus. Es war dunkel und unheimlich. Sie ging von Zimmer zu Zimmer, aber alles war leer. Schließlich kam sie in den Keller. Dort saß eine sehr, sehr alte Frau und nickte mit dem Kopf. Das Mädchen fragte sie: "Kannst du mir sagen, ob ich hier richtig bin?" Die alte Frau sagte leise: "Armes Kind, wo bist du nur gelandet? Das ist ein Räuberhaus. Sie werden dich fangen und dir wehtun."

    Die alte Frau hatte Mitleid und versteckte das Mädchen hinter einem riesigen Fass. "Sei ganz still", flüsterte sie. Kaum war das Mädchen versteckt, da hörten sie lautes Poltern und Rufen. Die Räuber kamen nach Hause! Sie zerrten ein anderes armes Mädchen herein, das weinte und schrie. Die Räuber waren grob und böse zu ihr. Sie gaben ihr etwas zu trinken, und das Mädchen fiel um und rührte sich nicht mehr.

    Einer der Räuber sah einen schönen goldenen Ring am Finger des Mädchens. Er wollte ihn haben, aber er ging nicht ab. Da nahm er ein Beil und hieb den Finger ab. Der Finger mit dem Ring sprang hoch in die Luft und fiel genau in den Schoß der Müllerstochter hinter dem Fass. Der Räuber wollte den Finger suchen, aber die alte Frau sagte: "Lass nur, du findest ihn morgen früh. Er läuft dir nicht weg." Sie gab den Räubern viel Wein zu trinken, in den sie einen Schlaftrunk gemischt hatte. Bald schnarchten alle Räuber tief und fest.

    Da kam die alte Frau zum Fass und half der Müllerstochter heraus. Sie zeigte ihr den Weg aus dem Haus und durch den Wald. Weil die Räuber schliefen, konnten sie sicher entkommen. Der Wind hatte die Asche, die das Mädchen auf dem Rückweg gestreut hatte, nicht weggeweht, und so fand sie den Weg zurück zur Mühle ihres Vaters. Sie erzählte ihm alles, was sie Schreckliches gesehen hatte.

    Ein paar Tage später war der Hochzeitstag gekommen. Der reiche Bräutigam kam zur Mühle, und viele Gäste waren da. Beim Festessen saßen alle fröhlich beisammen. Da bat der Bräutigam seine Braut: "Liebste, weißt du keine Geschichte zu erzählen?"

    Die Müllerstochter sagte: "Ja, ich will euch einen Traum erzählen, den ich hatte." Und sie begann zu erzählen, wie sie allein durch einen Wald ging und zu einem dunklen Haus kam. Sie erzählte von dem Vogel im Käfig, der sang:
    "Kehr um, kehr um, du junge Braut,
    Du bist in einem Mörderhaus!"

    Der Bräutigam wurde ein wenig blass, sagte aber nichts. Sie erzählte weiter von der alten Frau im Keller und wie sie sich hinter dem Fass versteckte. "Und dann, mein Liebster, träumte ich, kamen Räuber nach Hause..." Sie erzählte, wie sie ein anderes Mädchen brachten und wie böse sie waren. "...und dann, mein Liebster, träumte ich, hieb einer dem Mädchen den Finger ab, weil er den Ring wollte."

    Der Bräutigam wurde immer blasser. "Und der Finger mit dem Ring, mein Liebster, sprang hoch in die Luft..." Sie machte eine Pause und sah den Bräutigam fest an. "...und fiel genau hierher!" In diesem Moment zog sie den Finger mit dem goldenen Ring hervor und zeigte ihn allen Gästen.

    Der Bräutigam wurde weiß wie die Wand und wollte fliehen. Aber die Gäste hielten ihn fest. Sie hatten alles verstanden. Sie riefen die Wachen, und der falsche Bräutigam und seine ganze Räuberbande wurden gefangen genommen und für ihre bösen Taten bestraft. Die kluge Müllerstochter aber war gerettet und musste den schrecklichen Räuber nicht heiraten.

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