• Die drei Sprachen

    Grimms Märchen
    Hoch oben in einem Schloss, das so alt war, dass Moos an seinen Mauern wuchs, lebte ein Graf. Er hatte einen einzigen Sohn, aber der Junge wollte einfach nichts Rechtes lernen. Der Graf seufzte oft und dachte: "Was soll nur aus ihm werden?" Eines Tages sagte er zu seinem Sohn: "Mein Junge, du musst etwas lernen. Geh hinaus in die Welt zu einem berühmten Meister und sieh zu, dass du etwas Anständiges lernst."

    Der Sohn packte seine Sachen und ging zu einem Meister. Nach einem Jahr kam er zurück. "Nun, mein Sohn," fragte der Graf, "was hast du gelernt?"
    "Vater," antwortete der Junge, "ich habe gelernt, was die Hunde bellen."
    Der Graf schlug die Hände über dem Kopf zusammen. "Ist das alles? Dafür habe ich so viel Geld ausgegeben? Geh zu einem anderen Meister und lerne etwas Besseres!"

    Also ging der Sohn zu einem zweiten Meister. Wieder verging ein Jahr, und er kam nach Hause. "Und, was hast du diesmal gelernt?", fragte der Graf hoffnungsvoll.
    "Vater," sagte der Sohn, "ich habe gelernt, was die Vögel zwitschern."
    Da wurde der Graf richtig zornig. "Du unnützer Kerl! So viel Zeit und Geld verschwendet für so einen Unsinn! Geh ein letztes Mal zu einem Meister. Wenn du dann nichts Vernünftiges gelernt hast, will ich dich nicht mehr sehen!"

    Der Sohn ging traurig zu einem dritten Meister. Als er nach einem Jahr wiederkam, fragte der Graf mit finsterer Miene: "Nun, sprich! Was hast du gelernt?"
    "Lieber Vater," antwortete der Sohn, "dieses Jahr habe ich gelernt, was die Frösche quaken."
    Da platzte dem Grafen der Kragen. "Hinaus mit dir!", schrie er. "Du bist nicht länger mein Sohn! Ich will dich nie wiedersehen!" Er gab seinen Dienern den Befehl, den Jungen in den Wald zu führen und ihn dort allein zu lassen.

    Die Diener taten, wie ihnen geheißen, aber sie hatten Mitleid mit dem Jungen und ließen ihn laufen. Der junge Graf wanderte traurig durch den Wald. Nach einer Weile kam er zu einer Burg, vor der viele Hunde wild bellten und jaulten. Er blieb stehen und lauschte. "Aha," dachte er, "sie bellen, weil sie einen großen Schatz in einem Turm bewachen, aber sie kommen nicht heran, weil der Schlüssel in einem tiefen Brunnen liegt."
    Er ging zu den Hunden und sagte in ihrer Sprache: "Liebe Hunde, ich weiß, was euch fehlt. Ich helfe euch, wenn ihr mir dafür einen Teil des Schatzes gebt." Die Hunde wedelten freudig mit dem Schwanz und bellten zustimmend.
    Der junge Graf ging zum Brunnen. Dort saßen viele Frösche und quakten laut. Er lauschte. "Aha," dachte er, "sie quaken darüber, dass ein goldener Schlüssel auf dem Grund des Brunnens liegt."
    Er sprach zu den Fröschen: "Liebe Frösche, könnt ihr mir den Schlüssel vom Grund des Brunnens holen?"
    "Quak, quak, gewiss!", quakten die Frösche und einer tauchte hinab und brachte ihm den goldenen Schlüssel.
    Mit dem Schlüssel öffnete er den Turm und fand einen riesigen Schatz aus Gold und Silber. Er teilte ihn mit den Hunden, nahm sich aber selbst den größten Teil und zog weiter.

    Er reiste lange und kam schließlich in eine große Stadt. Es war Rom. Dort hörte er Vögel aufgeregt auf den Dächern zwitschern. Er lauschte. "Der Papst ist gestorben!", zwitscherten sie. "Und die Kardinäle wissen nicht, wen sie zum neuen Papst wählen sollen. Sie warten auf ein Zeichen Gottes. Derjenige soll es werden, auf dessen Schulter sich bei der Messe eine weiße Taube niederlässt."
    "Das ist ja interessant", dachte der junge Graf und ging neugierig in die große Kirche. Als er dort stand, flog plötzlich eine weiße Taube durch ein Fenster herein und landete sanft auf seiner Schulter.
    Da riefen alle Leute: "Ein Wunder! Ein Wunder! Er ist der Auserwählte!"
    Und so wurde der junge Graf, der die Sprache der Hunde, der Vögel und der Frösche gelernt hatte, zum Papst ernannt. Und ob er nun viel von Kirchenangelegenheiten verstand oder nicht, die Tiere halfen ihm oft mit ihren Ratschlägen, und er regierte weise und gut. Sein Vater aber, als er davon hörte, bereute sehr, dass er seinen Sohn verstoßen hatte, und bat ihn um Verzeihung.

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