• Der alte Mann an der Grenze und sein verlorenes Pferd

    Chinesische Fabeln
    Stellt euch vor, an der Grenze eines großen, alten Landes, wo hohe Berge in den Himmel ragten, lebte ein alter Mann mit seinem Sohn. Sie hatten nicht viel, aber sie hatten ein starkes, kluges Pferd, das dem alten Mann sehr am Herzen lag.

    Eines Morgens war das Pferd verschwunden! Einfach weg. Die Nachbarn kamen herbeigelaufen. "Oh, was für ein Pech!", riefen sie. "Dein bestes Pferd ist fort! Das ist ja schrecklich!"
    Der alte Mann aber zuckte nur mit den Schultern und sagte ganz ruhig: "Pech? Glück? Wer weiß das schon so genau?" Die Nachbarn schüttelten verwundert die Köpfe.

    Ein paar Wochen später, als niemand mehr damit rechnete, kam das Pferd zurück. Und es war nicht allein! Es brachte ein anderes, wunderschönes, wildes Pferd mit.
    Die Nachbarn kamen wieder angerannt, diesmal ganz aufgeregt. "Was für ein Glück!", jubelten sie. "Dein Pferd ist wieder da und hat noch ein zweites mitgebracht! Jetzt hast du zwei Pferde!"
    Der alte Mann lächelte sanft und sagte wieder: "Glück? Pech? Wer weiß das schon so genau?" Die Nachbarn kicherten. Dieser alte Mann war schon ein komischer Kauz.

    Der Sohn des alten Mannes war begeistert von dem neuen, wilden Pferd. Er wollte es unbedingt reiten lernen. Jeden Tag übte er. Doch eines Tages, als er versuchte, auf das wilde Pferd zu steigen, warf es ihn ab. Plumps! Der Junge landete unsanft auf dem Boden und brach sich ein Bein. Aua!
    Die Nachbarn eilten herbei. "Oh, dein armer Sohn!", klagten sie. "Das schöne neue Pferd hat ihm das Bein gebrochen! Was für ein Unglück!"
    Und was sagte der alte Mann? Ihr könnt es euch sicher schon denken. Er sagte: "Unglück? Glück? Wer weiß das schon so genau?"

    Kurze Zeit später gab es Krieg. Der König rief alle jungen, gesunden Männer des Landes zu den Waffen. Sie mussten in den Kampf ziehen. Die Söhne der Nachbarn wurden alle eingezogen. Viele von ihnen kamen nie wieder nach Hause.
    Aber der Sohn des alten Mannes? Er konnte nicht mit in den Krieg ziehen. Sein Bein war ja noch gebrochen und heilte langsam. So blieb er sicher zu Hause bei seinem Vater.

    Da verstanden die Nachbarn endlich, was der alte Mann immer meinte. Manchmal sieht etwas zuerst wie ein großes Pech aus, entpuppt sich aber später als Glück. Und manchmal ist es genau umgekehrt. Man sollte also nicht zu schnell urteilen, denn das Leben steckt voller Überraschungen.

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