• Jungfrau Maleen

    Grimms Märchen
    Hört mal her, ich erzähle euch eine Geschichte von einer Prinzessin, die Maleen hieß. Sie war so hübsch wie der Morgenstern und hatte ein Herz aus Gold. Sie liebte einen jungen Prinzen, und der Prinz liebte sie auch. Aber Maleens Vater, der König, sagte: "Nein, diesen Prinzen heiratest du nicht!"

    Weil Maleen aber nur diesen einen Prinzen wollte, wurde ihr Vater zornig. Er ließ einen stockdunklen Turm bauen, in den kein Sonnenstrahl und kein Mondlicht fiel. Dort sperrte er Prinzessin Maleen zusammen mit ihrer treuen Zofe ein. Sie bekamen Essen und Trinken für sieben Jahre. Der König dachte, danach hätte Maleen den Prinzen sicher vergessen.

    Die sieben Jahre vergingen, aber niemand kam, um sie herauszulassen. Das Essen wurde knapp, und Maleen und ihre Zofe wussten nicht, was sie tun sollten. Schließlich nahmen sie ein kleines Brotmesser und begannen, den Mörtel zwischen den Steinen herauszukratzen. Es war harte Arbeit, aber nach langer Zeit hatten sie einen Stein locker und konnten ihn herausziehen, dann noch einen und noch einen. Bald war das Loch groß genug, und sie kletterten hinaus in die Freiheit.

    Aber was für ein Anblick! Das ganze Land war verwüstet. Feinde hatten alles zerstört, und von Maleens Vaters Schloss war nichts mehr übrig. Sie wussten nicht, wohin sie gehen sollten. So wanderten sie hungrig und müde durch die Welt.

    Nach vielen Tagen kamen sie endlich zu einem anderen Königreich. Dort suchten sie Arbeit und wurden als Küchenmädchen im Schloss des Königs angestellt. Und stellt euch vor, dieser König war der Vater des Prinzen, den Maleen so sehr liebte! Der Prinz aber sollte bald eine andere Prinzessin heiraten. Diese neue Braut war nicht besonders hübsch und auch ein bisschen eingebildet. Sie schämte sich für ihr Aussehen und wollte nicht, dass der Prinz sie vor der Hochzeit richtig sah.

    Als der Tag kam, an dem die Braut mit dem Prinzen zur Kirche gehen sollte, sagte die falsche Braut zu Maleen: "Du siehst mir ein wenig ähnlich. Zieh meine Kleider an und geh an meiner Stelle mit dem Prinzen zur Kirche. Aber sprich kein Wort!" Maleen war traurig, aber sie musste gehorchen.

    Auf dem Weg zur Kirche kamen sie an einem Brennnesselbusch vorbei. Da flüsterte Maleen:
    "Brennnesselbusch, Brennnesselbusch so klein,
    was stehst du hier allein?
    Ich habe dich gegessen,
    ich habe dich vergessen."

    "Was sagst du da?", fragte der Prinz.
    "Ach nichts", sagte Maleen, "ich dachte nur an Prinzessin Maleen."
    Der Prinz wunderte sich, dass sie Prinzessin Maleen kannte, sagte aber nichts.

    Dann kamen sie an eine Kirchentreppe. Da flüsterte Maleen:
    "Kirchentreppe, brich mir nicht,
    die rechte Braut bin ich nicht."

    "Was sagst du da?", fragte der Prinz wieder.
    "Ach nichts", sagte Maleen, "ich dachte nur an Prinzessin Maleen."

    Schließlich kamen sie an die Kirchentür. Da flüsterte Maleen:
    "Kirchentür, zerbrich mir nicht,
    die rechte Braut bin ich nicht."

    "Was sagst du da?", fragte der Prinz zum dritten Mal.
    "Ach nichts", sagte Maleen, "ich dachte nur an Prinzessin Maleen."
    Der Prinz schaute sie genauer an. Er dachte, ihre Stimme klang bekannt. Und dann sah er eine goldene Kette um ihren Hals blitzen – es war die Kette, die er einst Prinzessin Maleen geschenkt hatte!

    Nach der Kirche, zurück im Schloss, sollte das große Hochzeitsfest beginnen. Die falsche Braut saß neben dem Prinzen, aber sie war ganz still. Der Prinz sagte zu ihr: "Was hast du denn auf dem Weg zur Kirche zum Brennnesselbusch gesagt?"
    "Zu welchem Busch?", fragte die falsche Braut, "Ich habe mit keinem Busch gesprochen."
    "Wenn du das nicht getan hast", sagte der Prinz, "dann bist du nicht die Rechte."
    Er ließ Maleen rufen und fragte sie: "Was hast du zum Brennnesselbusch gesagt?"
    Maleen wiederholte ihren Spruch. Dann fragte er nach der Kirchentreppe und der Kirchentür, und Maleen sagte auch diese Sprüche auf.

    Als sie sprach, erkannte der Prinz ihre Stimme ganz deutlich. Und als er die goldene Kette sah, rief er: "Du bist es! Du bist meine wahre Braut, meine liebe Maleen!"
    Er nahm sie in den Arm und küsste sie.

    Die falsche Braut wurde für ihre Lüge und ihre Gemeinheit bestraft und musste das Schloss verlassen. Prinzessin Maleen aber zog ihr schönes Prinzessinnenkleid an und feierte mit ihrem Prinzen eine fröhliche Hochzeit. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute glücklich zusammen.

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