Die Kornähre
Grimms Märchen
Stellt euch vor, es gab eine Zeit, da war der liebe Gott manchmal selbst auf der Erde unterwegs und schaute nach dem Rechten. In dieser Zeit waren die Kornähren nicht so, wie wir sie heute kennen. Nein, sie waren riesig groß! Vom Boden bis ganz zur Spitze des Halmes waren sie voller dicker, goldener Körner. Man brauchte nur eine einzige Ähre, um eine ganze Familie satt zu machen.
Eines Tages ging eine junge Frau mit ihrem kleinen Kind an einem prächtigen Kornfeld vorbei. Das Kind war gerade in eine Matschpfütze geplumpst und seine Kleider waren ganz schmutzig. Die Frau sah die wunderbare, große Kornähre neben sich. "Ach," dachte sie, "diese Körner sind so weich und sauber, damit kann ich prima die Kleider meines Kindes abwischen." Und ohne lange zu überlegen, pflückte sie einen Teil der vollen Ähre ab und benutzte die Körner, um den Dreck von den Kleidern zu putzen.
Der liebe Gott, der gerade in der Nähe war, sah das und wurde sehr traurig. Er dachte: "Die Menschen wissen meine Gaben nicht zu schätzen. Ich gebe ihnen so viel Gutes, und sie verwenden es für so etwas!" Er wurde auch ein bisschen zornig und sprach: "Weil die Menschen so undankbar sind, soll von nun an kein Korn mehr an den Halmen wachsen."
Als die Menschen das hörten, erschraken sie sehr. Sie liefen zusammen und baten den lieben Gott: "Oh, bitte, sei nicht so streng! Wenn kein Korn mehr wächst, was sollen wir dann essen? Und denk doch auch an die unschuldigen Vögel und Hühner, die auch von den Körnern leben. Sie haben doch nichts Böses getan!"
Der liebe Gott hörte ihr Flehen, und besonders die Bitte für die Tiere rührte sein Herz. Er dachte einen Moment nach und sagte dann: "Nun gut. Weil ihr auch an die Tiere denkt und weil sie unschuldig sind, will ich nicht, dass gar kein Korn mehr wächst. Aber die Ähren sollen nicht mehr so groß sein wie früher. Nur an der Spitze des Halmes soll eine kleine Ähre wachsen, so wie ihr sie von nun an kennen werdet. Und die Menschen sollen lernen, dankbar zu sein für jedes Körnchen."
Und so geschah es. Seit diesem Tag wachsen die Kornähren nur noch an der Spitze des Halmes. Sie sind nicht mehr so riesig wie in jener alten Zeit, aber sie erinnern uns daran, dass wir für die Geschenke der Natur dankbar sein und sie gut behandeln sollen.
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