• Das arme Kind im Grabe

    Grimms Märchen
    In einem prächtigen Haus, mit einem riesigen Garten, lebte ein sehr reicher Mann. Dieser Mann hatte alles, was man sich nur wünschen konnte, aber er war oft allein. Eines Tages kam ein kleiner, armer Waisenjunge in sein Dorf. Der reiche Mann dachte sich: "Ach, ich nehme ihn bei mir auf, dann habe ich Gesellschaft und er kann mir ein bisschen helfen."

    So kam der Junge in das große Haus. Aber der reiche Mann war nicht immer nett zu ihm. Manchmal bekam der Junge nicht genug zu essen, und oft fühlte er sich einsam und traurig in dem riesigen Haus. Er musste viel arbeiten und hatte kaum Zeit zum Spielen.

    Eines Tages wurde der kleine Junge sehr krank. Niemand kümmerte sich so richtig um ihn, und bald darauf starb er. Sie begruben ihn auf dem kleinen Friedhof hinter der Kirche, in einem einfachen Grab.

    Der reiche Mann fühlte sich plötzlich sehr schlecht. Er dachte: "Vielleicht war ich nicht gut zu ihm. Vielleicht hätte ich ihm mehr Spielzeug kaufen oder öfter mit ihm lachen sollen."

    In der Nacht, als der reiche Mann in seinem warmen, weichen Bett lag, hörte er ein leises Klopfen an seiner Tür. Er machte die Augen auf und wer stand da? Es war der Geist des kleinen Jungen! Er stand da, ganz blass, und zitterte am ganzen Körper.
    "Mir ist so kalt in meinem Grab", flüsterte der Junge mit zittriger Stimme.

    Der reiche Mann erschrak furchtbar. Schnell holte er seinen besten und wärmsten Mantel aus dem Schrank, rannte zum Friedhof und legte ihn auf das Grab des Jungen. "So", dachte er, "jetzt wird ihm nicht mehr kalt sein."

    Aber in der nächsten Nacht, als der Mond hell schien, klopfte es wieder an der Tür des reichen Mannes. Wieder stand der kleine Junge da, noch blasser als zuvor. "Mir ist immer noch so kalt!", jammerte er.
    Da nahm der reiche Mann den dicken, kuscheligen Umhang seiner Frau und legte ihn auch noch auf das Grab. "Das muss doch reichen!", murmelte er.

    Doch in der dritten Nacht, als der Wind um das Haus pfiff, hörte der reiche Mann wieder das Klopfen. Der Junge stand vor ihm, durchsichtig wie Nebel, und seine Zähne klapperten. "Kalt, kalt, so furchtbar kalt!"
    Verzweifelt holte der Mann die schwere, warme Pferdedecke aus dem Stall und breitete sie ebenfalls über das Grab. Er stapelte die Decken und Mäntel hoch auf.

    Aber es half alles nichts. In der vierten Nacht erschien der Junge erneut und weinte: "Mir ist so schrecklich kalt! Bitte, hilf mir doch!"
    Da dachte der reiche Mann endlich einmal richtig nach. "Moment mal", sagte er sich, "Decken auf der Erde können ihn doch gar nicht wärmen, wenn er *im* Grab liegt!" Er nahm eine Schaufel und ging zum Friedhof. Ganz vorsichtig grub er die Erde weg.

    Und was sah er? Der kleine Junge lag da, ganz steif und blau vor Kälte. Er war ja nur in einem dünnen Hemdchen beerdigt worden, weil der reiche Mann damals nicht an warme Kleidung für ihn gedacht hatte.
    Schnell und behutsam hob der reiche Mann den Jungen aus dem kalten Grab und trug ihn nach Hause. Er legte ihn ganz nah ans warme Kaminfeuer, wickelte ihn in die weichsten Decken, die er im Haus finden konnte, und rieb seine kleinen, eiskalten Händchen und Füßchen.

    Langsam, ganz langsam, wurde der Junge wieder warm. Seine Wangen bekamen ein bisschen Farbe, und er öffnete die Augen. Er sah den reichen Mann an und sagte mit leiser, aber klarer Stimme: "Du warst nicht gut zu mir, als ich lebte. Aber jetzt hast du verstanden und mir geholfen. Dafür danke ich dir. Doch für deine frühere Kälte und Gleichgültigkeit wirst du eines Tages deine Antwort bekommen."

    Der reiche Mann erschrak sehr über diese Worte. Er wusste tief in seinem Herzen, dass der Junge Recht hatte. Von diesem Tag an versuchte er, ein besserer und freundlicherer Mensch zu sein, besonders zu denen, die weniger hatten als er. Aber die Erinnerung an den armen Jungen im kalten Grab und seine leisen Worte verließ ihn nie mehr.

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