• Die Gänsehirtin am Brunnen

    Grimms Märchen
    Tief, tief im Wald, wo die Bäume so dicht standen, dass kaum ein Sonnenstrahl den Boden erreichte, lebte eine alte Frau ganz allein in einem kleinen Häuschen. Niemand kam oft vorbei, denn der Wald war groß und ein bisschen unheimlich.

    Eines Tages aber ritt ein junger, hübscher Graf durch diesen Wald und, hoppla, er verirrte sich! Er rief und suchte, aber fand den Weg nicht mehr hinaus. Nach langem Umherirren sah er endlich das kleine Haus der alten Frau.

    Die alte Frau kam heraus. Sie sah ein bisschen müde und gebeugt aus, aber der Graf war froh, überhaupt jemanden zu sehen. "Gute Frau," sagte er, "könnt Ihr mir den Weg aus dem Wald zeigen?"
    Die Alte nickte langsam. "Vielleicht. Aber zuerst, junger Mann, hilf mir doch bitte, dieses schwere Bündel Holz ins Haus zu tragen."
    Der Graf, obwohl er ein vornehmer Herr war, stieg vom Pferd und half ihr. Puh, das Bündel war wirklich schwerer, als es aussah!

    Drinnen, am warmen Ofen, machte die alte Frau ihm einen Vorschlag. "Bleib drei Jahre bei mir und diene mir treu", sagte sie mit überraschend klarer Stimme. "Du musst Holz hacken, Gras für meine Gänse schneiden und ihre Federn sammeln. Wenn du das tust, bekommst du von mir ein Kästchen mit einem wunderschönen grünen Edelstein, einem Smaragd. So einen hast du noch nie gesehen!"
    Der Graf dachte nach. Drei Jahre waren eine lange Zeit, aber er war ja sowieso verloren und der Smaragd klang verlockend. Also sagte er zu.

    Seine Arbeit war einfach, aber jeden Tag dieselbe. Holz hacken, Gras schneiden, Federn sammeln. Die alte Frau hatte auch andere Diener, zwei alte Männer, die sehr seltsam aussahen und nie ein Wort sprachen. Mit denen durfte der Graf auch nicht reden. Er fühlte sich oft ein bisschen einsam.

    Eines Abends, als die drei Jahre fast vorbei waren, saß der Graf traurig am Brunnen im Garten. Da sah er etwas Unglaubliches! Die alte Frau kam zum Brunnen, bückte sich, wusch sich Gesicht und Hände mit dem kühlen Wasser. Und als sie sich aufrichtete, war sie keine alte Frau mehr! Vor ihm stand eine wunderschöne junge Dame, so schön wie der Morgen. Ihre Augen leuchteten wie Sterne.
    Der Graf traute seinen Augen kaum. Die junge Dame lächelte ihn an. "Deine Dienstzeit ist bald um, mein lieber Graf", sagte sie. "Du warst treu und fleißig."

    Am nächsten Tag gab sie ihm das versprochene Kästchen. Es war klein und aus dunklem Holz, und darin funkelte tatsächlich ein herrlicher Smaragd. "Nimm dies", sagte die Prinzessin (denn das war sie!), "aber ich muss dich warnen. Öffne das Kästchen erst, wenn du an einem ganz bestimmten Ort bist, den ich dir nennen werde. Nicht vorher!" Sie nannte ihm einen Ort, der weit, weit weg war.

    Der Graf bedankte sich und machte sich auf den Weg. Er war so aufgeregt und neugierig auf das Kästchen! Er versuchte, an etwas anderes zu denken, aber seine Finger kribbelten. "Ach," dachte er nach einer Weile, "ein kleiner Blick kann doch nicht schaden." Er konnte einfach nicht widerstehen. Heimlich öffnete er das Kästchen. Darin lag nicht nur der Smaragd, sondern auch eine wunderschöne, leuchtende Perle. Aber kaum hatte er sie erblickt, da fiel sie ihm aus der Hand, rollte ins Gras und war verschwunden! Oh je, der Graf war sehr traurig und ärgerte sich über seine Neugier.

    Mit dem Kästchen, in dem nun nur noch der Smaragd war, kam er schließlich im Schloss des Königs an, dem Vater der schönen Prinzessin. Als die Königin das Smaragdkästchen sah, rief sie erstaunt: "Woher hast du das? Das gehörte meiner Tochter!"
    Der Graf erzählte seine ganze Geschichte, von der alten Frau, den drei Jahren Dienst und der Verwandlung am Brunnen.

    Die Königin erklärte ihm: "Meine Tochter wurde von einer bösen Fee verzaubert und musste als alte Frau im Wald leben, bis jemand ihr drei Jahre treu dienen würde. Du hast sie erlöst! In dem Kästchen sollten eigentlich drei Perlen sein, als Zeichen ihrer drei Tugenden." Sie öffnete es, und tatsächlich, es waren keine Perlen mehr da, nur der Smaragd. Die Prinzessin hatte die anderen beiden wohl für etwas anderes gebraucht. "Die Perle, die du verloren hast," sagte die Königin ein wenig streng, "steht für Geduld und Gehorsam. Wenn du sie wiederfindest, darfst du meine Tochter heiraten."

    Der Graf war verzweifelt. Wie sollte er eine winzige Perle im weiten Land wiederfinden? Traurig ging er in den Schlossgarten. Da, am Brunnen, stand die wunderschöne Prinzessin. Sie lächelte ihn an und hielt ihm die verlorene Perle entgegen. "Ich wollte nur sehen, ob du ehrlich bist und deine Fehler zugibst", sagte sie sanft. "Du hast die Prüfung bestanden."

    Der Graf war überglücklich. Er steckte die Perle zurück ins Kästchen zum Smaragd. Bald darauf feierten er und die Prinzessin eine prächtige Hochzeit, und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute glücklich und zufrieden. Und der Graf? Der lernte, dass Neugier manchmal bestraft wird, aber Ehrlichkeit und Treue sich immer lohnen.

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