• In guten wie in schlechten Zeiten

    Grimms Märchen
    In einem kleinen, bunten Häuschen am Rande eines großen Waldes lebte eine Frau mit ihren zwei Töchtern. Die eine Tochter, nennen wir sie Lisa, war faul und unfreundlich, aber die Mutter liebte sie sehr, weil es ihre eigene Tochter war. Die andere Tochter, Anna, war fleißig und lieb, aber sie war nur die Stieftochter, und die Mutter mochte sie überhaupt nicht. Anna musste die ganze schwere Arbeit im Haus machen und bekam oft kaum etwas zu essen.

    Eines Tages sagte die böse Stiefmutter zu ihrer eigenen Tochter Lisa: "Heute Abend, wenn Anna schläft, werde ich mit einem großen Beil kommen und ihr den Kopf abschlagen. Du aber pass auf und leg dich an die Wandseite, damit du sicher bist." Zum Glück hörte Anna, was die Stiefmutter plante.

    Als es dunkel wurde und alle ins Bett gingen, wartete Anna, bis Lisa fest eingeschlafen war. Dann schob sie Lisa ganz vorsichtig an die äußere Bettkante und legte sich selbst an die sichere Wandseite. In der Nacht schlich die Stiefmutter herein. Sie tastete im Dunkeln und dachte, das Mädchen an der äußeren Kante sei Anna. Sie hob das Beil und schlug zu. Aber sie hatte ihre eigene Tochter Lisa erwischt!

    Als sie merkte, was passiert war, wurde sie furchtbar wütend. Anna aber war schon längst auf und davon gelaufen. Sie rannte und rannte, bis sie zu einem Prinzen kam, der Roland hieß. Roland war sehr freundlich und als er Annas Geschichte hörte, sagte er: "Komm mit mir, wir wollen zusammen durch dick und dünn gehen."

    Anna freute sich und sagte: "Ja, das will ich!" Aber sie fügte hinzu: "Wir müssen vorsichtig sein. Meine Stiefmutter ist eine Hexe und wird uns verfolgen. Wenn sie uns fast einholt, werfe ich diese drei Dinge hinter uns, die werden uns retten." Sie hatte nämlich drei Zaubernüsse von einer alten, weisen Frau geschenkt bekommen.

    Sie zogen los. Nicht lange danach sahen sie die böse Stiefmutter von weitem heranstapfen. Schnell warf Anna die erste Nuss hinter sich. Sofort wuchs daraus ein riesiger Dornenbusch, so dicht, dass die Stiefmutter sich mühsam hindurchkämpfen musste.

    Anna und Roland eilten weiter. Aber die Hexe war zäh und kam wieder näher. Da warf Anna die zweite Nuss. Daraus wurde ein breiter, tiefer See. Die Stiefmutter musste erst ein Boot suchen, um darüber zu gelangen.

    Wieder hatten Anna und Roland einen Vorsprung gewonnen. Doch die Hexe gab nicht auf. Als sie zum dritten Mal bedrohlich nahekam, warf Anna die letzte Nuss. Und was geschah? Anna verwandelte sich in eine wunderschöne Ente, die auf einem See schwamm, und Roland wurde zu einem Felsen am Ufer. Die Hexe kam an den See, sah die Ente und wollte sie fangen. Aber die Ente war schneller und tauchte immer wieder unter. Die Hexe wurde so wütend und müde, dass sie schließlich aufgab und nach Hause ging.

    Nun waren Anna und Roland sicher. Aber Roland sagte: "Ich muss jetzt nach Hause zu meinem Vater, dem König, und alles für unsere Hochzeit vorbereiten. Warte hier auf mich, ich bin bald zurück." Anna versprach zu warten.

    Roland ging ins Schloss, aber dort gab es eine andere Prinzessin, die ihn mit einem Zaubertrank dazu brachte, Anna zu vergessen. Anna wartete und wartete, aber Roland kam nicht. Sie wurde sehr traurig und verwandelte sich in eine kleine, unscheinbare Blume am Wegesrand, damit niemand sie zertrat.

    Eines Tages kam ein Schäfer vorbei. Er sah die hübsche Blume und pflückte sie, ohne zu wissen, dass es Anna war. Er nahm sie mit nach Hause und stellte sie in ein Glas Wasser. Von da an geschahen merkwürdige Dinge in seiner Hütte. Wenn er morgens aufwachte, war die Stube gekehrt, das Feuer brannte im Herd und das Essen stand bereit. Er wusste nicht, wie das geschah, aber er freute sich.

    Einmal erzählte ihm eine weise Frau: "Stell einen weißen Schleier über die Blume. Wenn dann am Morgen etwas darunter ist, das sich bewegt, wirf den Schleier schnell darüber." Der Schäfer tat, wie ihm geraten. Am nächsten Morgen sah er, wie sich etwas unter dem Schleier bewegte. Er warf ihn darüber, und siehe da, Anna stand vor ihm in ihrer wahren Gestalt.

    Sie erzählte ihm ihre Geschichte. Zur gleichen Zeit bereitete Prinz Roland seine Hochzeit mit der anderen Prinzessin vor. Es war Sitte, dass alle Mädchen des Landes zur Hochzeit kamen und ein Lied sangen. Als Anna an der Reihe war, sang sie so schön und traurig von ihrer gemeinsamen Flucht mit Roland, von dem Dornenbusch, dem See und wie sie zur Ente wurde.

    Als Roland ihre Stimme und das Lied hörte, fiel ihm alles wieder ein! Er erkannte seine liebe Anna. Sofort sagte er die Hochzeit mit der anderen Prinzessin ab und heiratete seine treue Anna. Sie lebten glücklich zusammen, teilten Freud und Leid und vergaßen nie, wie sie gemeinsam alle Gefahren überstanden hatten.

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