Einäuglein, Zweiäuglein und Dreiäuglein
Grimms Märchen
In einem kleinen, krummen Häuschen am Rande eines Waldes wohnte eine Mutter mit ihren drei Töchtern. Die älteste Tochter hieß Einäuglein, denn sie hatte nur ein einziges Auge mitten auf der Stirn. Die jüngste hieß Dreiäuglein, denn sie hatte drei Augen: zwei wie du und ich, und noch ein drittes mitten auf der Stirn. Und die mittlere Tochter? Die hieß Zweiäuglein, denn sie hatte zwei Augen, genau wie die meisten Leute.
Aber gerade weil Zweiäuglein so gewöhnlich aussah, mochten ihre Mutter und Schwestern sie gar nicht. Sie musste die ältesten Kleider tragen und bekam nur die Reste zu essen, die die anderen übrig ließen. Oft war sie sehr hungrig und traurig.
Eines Tages saß Zweiäuglein auf einer Wiese und weinte bitterlich, weil sie wieder einmal kaum etwas zu essen bekommen hatte. Plötzlich stand eine weise Frau vor ihr. "Warum weinst du, liebes Kind?", fragte sie mit freundlicher Stimme. Zweiäuglein erzählte ihr von ihrem Kummer.
Die weise Frau nickte und sagte: "Ich will dir helfen. Ich schenke dir ein kleines Zicklein. Wenn du hungrig bist, musst du nur sagen: 'Zicklein, meck, Tischchen, deck!' Dann wird ein Tischlein vor dir stehen, beladen mit den leckersten Speisen. Und wenn du satt bist und das Tischlein wieder verschwinden soll, sagst du: 'Zicklein, meck, Tischchen, weg!'" Damit verschwand die weise Frau.
Zweiäuglein war sehr neugierig. Sie streichelte das Zicklein und sagte leise: "Zicklein, meck, Tischchen, deck!" Und tatsächlich! Im Nu stand ein kleines Tischlein da, gedeckt mit warmem Brot, süßer Milch und roten Äpfeln. Zweiäuglein aß sich satt und war so glücklich. Danach sagte sie: "Zicklein, meck, Tischchen, weg!", und das Tischlein war verschwunden.
Von da an ging Zweiäuglein jeden Tag mit ihrem Zicklein auf die Wiese und aß sich heimlich satt. Zu Hause rührte sie die kargen Reste nicht mehr an. Das fiel ihren Schwestern bald auf. "Warum isst du denn nichts mehr?", fragte Einäuglein misstrauisch. "Du musst doch etwas anderes zu essen haben!"
Am nächsten Tag, als Zweiäuglein mit dem Zicklein zur Wiese ging, schlich Einäuglein ihr nach. Zweiäuglein merkte es nicht und wollte gerade ihren Spruch sagen. Da dachte sie: "Ich muss Einäuglein erst zum Schlafen bringen." Sie begann zu singen: "Schläfst du, Einäuglein? Wachst du, Einäuglein?" Und weil Einäuglein nur ein Auge hatte, wurde es schnell müde und schlief ein. Schnell sprach Zweiäuglein ihren Zauberspruch, aß sich satt und ließ das Tischlein wieder verschwinden.
Als Einäuglein aufwachte und nichts gesehen hatte, ging sie hungrig nach Hause. Da sagte die Mutter: "Morgen geht Dreiäuglein mit. Pass du besser auf!"
Am nächsten Tag ging also Dreiäuglein mit Zweiäuglein auf die Wiese. Wieder sang Zweiäuglein: "Schläfst du, Dreiäuglein? Wachst du, Dreiäuglein?" Sie sang und sang, und die zwei vorderen Augen von Dreiäuglein fielen auch zu. Aber Zweiäuglein hatte nicht bedacht, dass Dreiäuglein ja noch ein drittes Auge hatte! Dieses dritte Auge schlief nicht ein und sah ganz genau, wie das Zicklein das Tischlein deckte und wieder verschwinden ließ.
Dreiäuglein tat so, als würde sie tief schlafen. Als Zweiäuglein weg war, rannte sie nach Hause und erzählte alles der Mutter und Einäuglein. "Aha!", rief die Mutter zornig. "So macht sie das also!" Aus lauter Neid nahmen sie ein Messer und stachen das arme Zicklein tot.
Als Zweiäuglein das sah, weinte sie herzzerreißend. Wieder erschien die weise Frau. "Sei nicht traurig", tröstete sie. "Bitte deine Schwestern um die Eingeweide des Zickleins und vergrabe sie vor der Haustür."
Zweiäuglein bat ihre Schwestern, und weil sie dachten, die Eingeweide seien wertlos, gaben sie sie ihr. Zweiäuglein vergrub sie heimlich vor der Haustür. Am nächsten Morgen war an dieser Stelle ein wunderschöner Baum gewachsen. Er hatte silberne Blätter und goldene Äpfel, so prächtig, dass niemand außer Zweiäuglein sie pflücken konnte. Wenn Einäuglein oder Dreiäuglein es versuchten, bogen sich die Zweige weg.
Eines Tages kam ein junger Ritter an dem Häuschen vorbeigeritten. Er sah den wunderbaren Baum mit den goldenen Äpfeln. "Wem gehört dieser Baum?", fragte er. "Und wer mir einen Zweig davon geben kann, den werde ich reich belohnen!"
Einäuglein und Dreiäuglein versuchten sofort, einen Apfel zu pflücken, aber es gelang ihnen nicht. Die Zweige wichen immer wieder vor ihnen zurück. Da versteckten sie Zweiäuglein unter einem großen Fass, weil sie sich für sie schämten.
Der Ritter wurde ungeduldig. "Gibt es denn niemanden hier, der mir einen Apfel pflücken kann?" Da rollte ein goldener Apfel unter dem Fass hervor, direkt vor die Füße des Ritters. Er wunderte sich. Zweiäuglein rief unter dem Fass hervor: "Ich kann es vielleicht!"
Die Schwestern lachten, aber der Ritter befahl, das Fass wegzunehmen. Darunter kam Zweiäuglein zum Vorschein, in ihren ärmlichen Kleidern. Sie kletterte flink auf den Baum und brach mühelos einen ganzen Zweig mit goldenen Äpfeln ab.
Der Ritter war erstaunt über ihre Geschicklichkeit und als er sie genauer ansah, auch über ihre Schönheit, die unter den Lumpen verborgen war. "Du bist die Richtige!", sagte er. Er hob Zweiäuglein auf sein Pferd und ritt mit ihr zu seinem Schloss. Dort heirateten sie, und Zweiäuglein lebte glücklich und zufrieden. Der wunderbare Baum mit den silbernen Blättern und goldenen Äpfeln zog übrigens mit um und wuchs nun im Schlossgarten.
Einäuglein und Dreiäuglein aber wurden immer neidischer und unglücklicher. Als sie hörten, wie gut es Zweiäuglein ging, kamen sie eines Tages zum Schloss und baten um Hilfe. Zweiäuglein hatte ein gutes Herz. Sie verzieh ihren Schwestern und nahm sie bei sich auf. Und von da an mussten auch sie nicht mehr hungern und lernten, freundlicher zu sein.
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