• Der Jude im Dorn

    Grimms Märchen
    Kennt ihr die Geschichte von einem Knecht, der zwar ehrlich und fleißig war, aber von seinem Herrn nur einen winzigen Lohn bekam?

    Dieser Knecht hatte drei Jahre lang treu für einen reichen Mann gearbeitet. Als die Zeit um war, bat er um seinen Lohn. Der reiche Mann aber war ein Geizhals und gab ihm nur drei winzige Heller. Der Knecht war enttäuscht, aber was sollte er tun? Er steckte die Münzen ein und machte sich auf den Weg.

    Im Wald begegnete ihm ein kleines, lustiges Männchen. "Warum bist du so traurig?", fragte es. Der Knecht erzählte von seinem kargen Lohn. "Ach", sagte das Männchen, "gib mir deine drei Heller, und ich erfülle dir drei Wünsche!" Der Knecht dachte nicht lange nach und gab ihm die Münzen.

    "Nun wünsche dir was!", sagte das Männchen.
    "Erstens", sprach der Knecht, "wünsche ich mir ein Gewehr, das alles trifft, was ich ziele."
    "Das sollst du haben", sagte das Männchen.
    "Zweitens wünsche ich mir eine Geige. Wenn ich darauf spiele, muss jeder tanzen, ob er will oder nicht."
    "Auch die sollst du haben."
    "Und drittens", fuhr der Knecht fort, "wenn ich jemanden um etwas bitte, darf er es mir nicht abschlagen."
    "Das ist ein starker Wunsch!", meinte das Männchen, "aber auch der sei dir gewährt." Damit verschwand es, und der Knecht hatte sein Gewehr und seine Geige.

    Fröhlich zog der Knecht weiter. Bald sah er einen Juden mit langem Bart unter einem Baum stehen, der lauschte, wie ein Vogel oben in den Zweigen sang. "Oh, was für ein prächtiger Vogel!", dachte der Knecht. "Den muss ich haben!" Er legte sein Gewehr an, zielte, und – peng! – fiel der Vogel herunter in einen großen Dornenbusch.

    Der Jude rannte hinzu und schimpfte: "Du Schlingel! Warum schießt du mir den schönen Vogel tot?"
    "Dein Vogel?", lachte der Knecht. "Wenn du ihn haben willst, kriech doch in den Busch und hol ihn raus!"
    Der Jude, der den Vogel gern gehabt hätte, murrte, aber er begann, sich mühsam in den stacheligen Dornenbusch zu arbeiten. Als er gerade mitten im dichtesten Gestrüpp war, wo ihn die Dornen von allen Seiten pieksten, nahm der Knecht seine Geige und fing an zu spielen.

    Kaum erklangen die ersten Töne, da fing der Jude im Dornenbusch an zu tanzen! Er hüpfte und sprang, die Arme und Beine wirbelten herum, und die Dornen zerrissen ihm die Kleider und kratzten ihn fürchterlich.
    "Au! Au! Hör auf mit dem Geigenspiel!", schrie der Jude. "Ich geb dir Geld, wenn du aufhörst!"
    Aber der Knecht spielte munter weiter, und der Jude tanzte immer wilder. Seine Kleider hingen in Fetzen, und er stöhnte und ächzte.
    "Ich geb dir einen ganzen Beutel voll Gold!", jammerte er schließlich.
    Da hörte der Knecht auf zu spielen. Der Jude kroch zerkratzt und zerzaust aus dem Busch, gab dem Knecht den Beutel Gold und schimpfte vor sich hin, während er davoneilte.

    Der Jude aber lief schnurstracks zum Richter und klagte: "Herr Richter, ach, Herr Richter! Ich wurde auf offener Straße von einem Bösewicht mit einer Geige überfallen und beraubt! Er hat mir einen Beutel Gold gestohlen!"
    Der Richter ließ den Knecht sofort holen. Als der Knecht vor dem Richter stand, sagte er: "Das ist nicht wahr. Er hat mir das Gold freiwillig gegeben, damit ich aufhöre, Geige zu spielen, während er im Dornenbusch tanzte."
    "Im Dornenbusch getanzt?", lachte der Richter. "So eine unglaubliche Geschichte!"
    Der Jude aber schwor hoch und heilig, dass er beraubt worden sei. Da glaubte der Richter dem Juden und verurteilte den Knecht zum Tode am Galgen.

    Als der Knecht zum Galgen geführt wurde, bat er den Richter um eine letzte Gunst.
    "Nun gut", sagte der Richter, "was begehrst du?"
    "Erlaubt mir, ein letztes Mal auf meiner Geige zu spielen", bat der Knecht.
    Der Jude rief entsetzt: "Um Himmels willen, nein! Nicht das schon wieder!"
    Aber der Richter sagte: "Es sei dir gewährt. Spiele dein Lied."

    Der Knecht nahm seine Geige, und sobald er den Bogen ansetzte und die ersten Töne spielte, begannen alle zu zappeln. Der Richter, seine Schreiber, die Gerichtsdiener, der Henker und alle Leute, die auf dem Platz standen, fingen an zu tanzen. Zuerst nur ein bisschen, dann immer wilder. Sie hüpften und sprangen durcheinander, stießen zusammen und konnten einfach nicht aufhören. Der Jude tanzte mit, obwohl er gar nicht wollte, und seine Beine schlenkerten nur so.

    Als das Tanzen kein Ende nahm und alle schon ganz außer Puste waren, keuchte der Richter: "Hör auf, hör auf zu spielen! Ich schenke dir dein Leben!"
    Der Knecht hörte auf. Alle sanken erschöpft zu Boden.
    Dann wandte sich der Knecht an den Juden, der kaum noch Luft bekam: "Nun, du Schuft, gestehe, woher du das Gold hattest! Hast du es gestohlen oder habe ich es rechtmäßig von dir bekommen?"
    "Ich... ich habe gelogen!", stotterte der Jude. "Das Gold gehört dir, du hast es ehrlich bekommen!"
    Da wurde der Jude für seine Lüge bestraft, und der Knecht zog fröhlich mit seinem Gold und seiner Zaubergeige weiter seines Weges.

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