• Der Wolf und der Mensch

    Grimms Märchen
    Tief in einem Wald, wo die Bäume so hoch waren, dass sie fast den Himmel kitzelten, lebte ein Wolf. Dieser Wolf dachte, er sei der König des Waldes. "Ich bin der Stärkste!", brummte er oft vor sich hin und plusterte stolz sein Fell auf.

    Eines Tages, als er so durch den Wald stolzierte, traf er einen Mann. Der Mann trug eine Axt auf der Schulter und pfiff ein fröhliches Lied.
    "Du, Menschlein," knurrte der Wolf, "wer ist stärker, du oder ich?"
    Der Mann lächelte. "Nun, lieber Wolf, das können wir ja herausfinden."
    "Ha!", lachte der Wolf. "Das ist doch klar! Ich habe scharfe Zähne und starke Krallen!"

    "Mag sein," sagte der Mann, "aber ich habe Verstand. Siehst du diesen dicken Baumstamm dort drüben?" Er zeigte auf einen gefällten Baum. "Wetten, ich kann ihn schneller spalten als du ihn zerbeißen kannst?"
    Der Wolf schnaubte. "Lächerlich!"
    Der Mann nahm seine Axt. Mit ein paar kräftigen Schlägen trieb er einen Keil in das Holz, sodass ein Spalt entstand. "So, Wolf," sagte er listig, "wenn du mir helfen willst, steck deine Vorderpfoten in den Spalt, dann können wir zusammen ziehen und es geht schneller."

    Der Wolf, der immer noch dachte, er sei dem Menschen überlegen und wollte zeigen, wie stark er ziehen kann, tat, was der Mann sagte. Kaum hatte er seine Pfoten in den Spalt gesteckt, zog der Mann blitzschnell den Keil heraus. Klapp! Der Spalt schloss sich und die Pfoten des Wolfes waren fest eingeklemmt.
    "Aua, aua!", jaulte der Wolf. "Das ist nicht fair! Lass mich los!"
    Der Mann lachte leise. "Siehst du, Wolf? Manchmal ist Klugheit stärker als reine Muskelkraft." Er ließ den Wolf zappelnd zurück und ging seines Weges, um seine Arbeit fortzusetzen.

    Der Wolf heulte und versuchte, sich zu befreien, aber es half nichts. Er saß fest. Nach einer Weile kam die Frau des Mannes mit einem Korb vorbei, um Beeren zu sammeln. Als sie den Wolf sah, der so jämmerlich winselte, bekam sie Mitleid.
    "Oh, armer Wolf," sagte sie, "wie bist du denn da hineingeraten?"
    "Dein Mann hat mich überlistet!", klagte der Wolf. "Bitte, hilf mir! Ich verspreche auch, euch niemals etwas zu tun."
    Die Frau überlegte kurz. Dann nahm sie die Axt, die der Mann in der Nähe hatte liegen lassen, und schlug den Keil vorsichtig wieder in den Spalt, gerade so weit, dass der Wolf seine Pfoten herausziehen konnte.

    Der Wolf schüttelte seine schmerzenden Pfoten. "Danke, gute Frau," sagte er, diesmal viel bescheidener. Er hatte gelernt, dass Menschen nicht nur schwach sind, sondern auch sehr schlau sein können. Er humpelte davon in den Wald und dachte noch lange über diesen Tag nach. Und von da an war er ein bisschen vorsichtiger und nicht mehr ganz so großspurig, wenn er einem Menschen begegnete.

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