• Von dem Machandelboom

    Grimms Märchen
    In einem gemütlichen kleinen Haus, umgeben von einem Garten, lebte einmal ein Ehepaar. Sie liebten sich sehr, aber sie waren ein bisschen traurig, denn sie wünschten sich von Herzen ein Kind. Im Garten stand ein wunderschöner Wacholderbaum. Eines kalten Wintertages stand die Frau unter diesem Baum und schälte einen Apfel. Dabei schnitt sie sich in den Finger, und ein paar Tropfen Blut fielen auf den weißen Schnee. "Ach," seufzte sie, "hätte ich doch ein Kind, so rot wie Blut und so weiß wie Schnee!"

    Ihr Wunsch ging in Erfüllung! Einige Monate später bekam sie einen kleinen Jungen, der wirklich Haut so weiß wie Schnee und Wangen so rot wie Blut hatte. Die Frau war überglücklich, aber leider wurde sie kurz darauf sehr krank und schloss für immer die Augen. Der Mann war sehr traurig und begrub seine liebe Frau unter dem Wacholderbaum im Garten.

    Nach einer Weile heiratete der Mann wieder. Seine neue Frau brachte eine Tochter mit ins Haus, die Marlinchen hieß. Die neue Frau war aber keine liebe Stiefmutter für den kleinen Jungen. Sie mochte ihn überhaupt nicht und war oft gemein zu ihm, während sie ihre eigene Tochter Marlinchen bevorzugte. Der arme Junge hatte es nicht leicht.

    Eines Tages rief die Stiefmutter den Jungen zu sich. Sie hatte eine große Holztruhe voller Äpfel. "Such dir einen schönen Apfel aus der Truhe", sagte sie mit falscher Freundlichkeit. Als der Junge sich tief über den Rand beugte, um einen Apfel zu greifen, schlug die böse Stiefmutter den schweren Deckel mit voller Wucht zu. Klapp! Oh weh, etwas Schreckliches war geschehen.

    Die Stiefmutter bekam Angst vor dem, was sie getan hatte. Sie setzte den Jungen auf einen Stuhl am Fenster, setzte ihm den Kopf wieder auf und gab ihm einen Apfel in die Hand. Dann rief sie ihre Tochter Marlinchen: "Geh zum Jungen und frag ihn nach dem Apfel. Wenn er nicht antwortet, gib ihm eine Ohrfeige!" Marlinchen ging hin und fragte: "Brüderchen, gibst du mir den Apfel?" Der Junge antwortete nicht. Da gab Marlinchen ihm, wie geheißen, eine leichte Ohrfeige, und der Kopf fiel herunter. Marlinchen erschrak furchtbar und weinte. Die Stiefmutter aber schob die Schuld auf Marlinchen, obwohl sie es selbst gewesen war.

    Dann tat die Stiefmutter etwas noch Schlimmeres: Sie kochte einen Eintopf aus dem Jungen. Als der Vater am Abend nach Hause kam, stellte sie ihm den Topf auf den Tisch. Der Vater hatte großen Hunger und wusste nicht, was er da aß. "Mmmh, das schmeckt aber köstlich!", sagte er und aß alles auf.

    Marlinchen aber war untröstlich. Sie weinte und weinte um ihren Stiefbruder. Heimlich sammelte sie alle kleinen Knochen, die übrig geblieben waren, wickelte sie in ein schönes Seidentuch und begrub sie unter dem Wacholderbaum im Garten. Sie weinte so sehr, dass ihre Tränen die Erde nässten.

    Plötzlich begann der Wacholderbaum zu rauschen und zu beben. Eine kleine Wolke stieg auf, und mitten aus der Wolke flog ein wunderschöner Vogel heraus. Er hatte prächtige Federn und sang mit einer klaren, lieblichen Stimme. Der Vogel flog auf das Dach des Hauses und begann zu singen:

    "Meine Mutter hat mich geschlachtet,
    Mein Vater hat mich gegessen,
    Mein Schwesterchen, die Marlinchen klein,
    Hob auf alle meine Bein,
    In Seidentuch gebunden fein,
    Legt’s unter den Wacholderstein.
    Kywitt, kywitt, was für ein schöner Vogel bin ich!"

    Der Vogel flog weiter durch die Stadt und sang sein Lied. Er kam zu einem Goldschmied, der gerade an einer goldenen Kette arbeitete. Der Goldschmied hörte das schöne Lied und bat den Vogel, es noch einmal zu singen. Als Belohnung schenkte er dem Vogel die goldene Kette.

    Dann flog der Vogel zu einem Schuhmacher. Auch der Schuhmacher war von dem Gesang begeistert und bat den Vogel, sein Lied zu wiederholen. Dafür schenkte er ihm ein Paar neue, rote Schuhe.

    Zuletzt flog der Vogel zu einer Mühle, wo die Müllerburschen gerade einen schweren Mühlstein bearbeiteten. Sie hörten das Lied und baten den Vogel, es für sie zu singen. Als Dank gaben sie ihm den großen, schweren Mühlstein.

    Nun flog der Vogel mit der goldenen Kette um den Hals, den roten Schuhen in der einen Kralle und dem Mühlstein in der anderen zurück zum Haus. Er setzte sich wieder auf das Dach und sang sein Lied noch lauter.

    Der Vater hörte das Lied und fühlte sich auf seltsame Weise froh. Er ging hinaus, und der Vogel ließ die goldene Kette vor seine Füße fallen. Der Vater hob sie auf und freute sich.

    Dann hörte Marlinchen das Lied. Sie fühlte sich erst traurig, dann aber auch irgendwie getröstet. Sie ging hinaus, und der Vogel warf ihr die roten Schuhe zu. Marlinchen zog sie an und tanzte vor Freude.

    Zuletzt hörte die böse Stiefmutter das Lied. Ihr wurde ganz heiß und kalt vor Angst. Sie rannte hinaus, um zu sehen, was los war. Kaum stand sie vor der Tür, ließ der Vogel den schweren Mühlstein fallen. Plumps! Der Stein traf die Stiefmutter genau, und sie war auf der Stelle verschwunden.

    Wo die Stiefmutter gestanden hatte, stieg Rauch und Feuer auf. Und mitten aus dem Rauch stand plötzlich der kleine Junge wieder da, lebendig und froh, genau wie früher!

    Der Vater und Marlinchen konnten ihr Glück kaum fassen. Sie nahmen den Jungen in die Arme. Alle drei gingen zusammen ins Haus, aßen fröhlich zu Abend und lebten von nun an glücklich und zufrieden zusammen. Der Wacholderbaum im Garten aber rauschte leise im Wind.

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