Bilderbuch ohne Bilder
Andersens Märchen
Stellt euch vor, in einer winzigen Dachkammer, ganz oben unter dem Dach, wohnte ein junger Maler. Er hatte nicht viel Geld, aber er hatte einen besonderen Freund. Und wer besuchte ihn dort fast jede Nacht? Ich, der Mond! Ja, genau der, der nachts so hell am Himmel scheint. Ich schaute durch sein kleines Fenster und erzählte ihm Geschichten, denn ich sehe ja so viel auf meinen Reisen um die Erde. Der Maler nannte es sein "Bilderbuch ohne Bilder".
Eines Abends erzählte ich ihm von einem kleinen Mädchen in Indien. Sie saß am Ufer eines großen Flusses, dem Ganges. In ihren Händen hielt sie eine kleine Tonlampe mit einem brennenden Docht. Vorsichtig setzte sie die Lampe auf das Wasser. "Wenn das Lichtlein lange schwimmt und nicht untergeht," flüsterte sie, "dann kommt mein Liebster bald gesund nach Hause." Die Lampe tanzte auf den Wellen, ein winziges, flackerndes Hoffnungslicht in der großen Dunkelheit. Der Maler seufzte leise, als er das hörte.
Ein anderes Mal schaute ich in ein Zirkuszelt, gerade als die Vorstellung zu Ende war. Ein Clown, der eben noch alle zum Lachen gebracht hatte, saß nun allein in seiner Garderobe. Er wusch sich die bunte Schminke ab, und darunter kam ein müdes, trauriges Gesicht zum Vorschein. Er hatte so viele Menschen glücklich gemacht, aber er selbst fühlte sich einsam. Das erzählte ich dem Maler, und er nickte nachdenklich.
Wieder eine Nacht später sah ich eine alte Großmutter. Sie saß in ihrem Lehnstuhl am Fenster, und ihre kleine Enkelin saß auf einem Schemel zu ihren Füßen. Das Mädchen las der Großmutter aus einem dicken Buch vor, mit klarer, heller Stimme. Die Großmutter lächelte und streichelte dem Kind sanft über das Haar. Ihre Augen waren schon alt und ein wenig trüb, aber ihr Herz war voller Liebe und Wärme.
Manchmal erzählte ich auch von lustigen Dingen. Von einem kleinen Hund, der versuchte, seinen eigenen Schwanz zu fangen und sich dabei immer im Kreis drehte, bis er ganz schwindelig umfiel. Oder von Kindern, die im Schnee eine riesige Schneeballschlacht machten und vor Freude quietschten.
Jede Nacht brachte ich dem Maler neue Bilder, gemalt nur mit Worten. Er hörte immer aufmerksam zu. Manchmal, wenn ihm eine Geschichte besonders gut gefiel, nahm er am nächsten Tag seinen Pinsel und versuchte, das Gesehene auf seine Leinwand zu bringen. So entstand sein ganz eigenes Bilderbuch, ein Bilderbuch, das nur er und ich, der Mond, kannten. Und vielleicht, wenn ihr nachts zum Himmel schaut, erzähle ich euch ja auch mal eine Geschichte.
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